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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
über sein Schiksal die ganze Obermacht, die ihm seine
Tugend über sie gab, fühlen zu lassen? Diese Art von
Stolz gleicht in ihren Würkungen der Wuth eines tapfern
Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die
Gewißheit des Todes, in den er sich hineinstürzt, macht,
daß er Thaten eines Unsterblichen thut. Aber Agathon
hatte dermalen nicht mehr soviel Ursache, auf seine Tugend
stolz zu seyn. Eben diese enthusiastische Gemüths-Be-
schaffenheit, welche ihm bey seiner Verbannung zu Athen
die Gesinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu
Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menschen
ausgesezt. Er dachte nicht mehr so groß von sich selbst,
und da ihm nun, in ähnlichen Umständen, dieser
heroische Stolz nicht mehr zu statten kommen konnte,
so mußte sich derselbe nothwendig in diejenige Art von
Misanthropie verwandeln, welche sich über die ganze
Gattung erstrekt. Jn diesem Stüke, wie in vielen
andern, ist die Geschichte Agathons die Geschichte aller
Menschen. Wir denken so lange groß von der mensch-
lichen Natur, als wir groß von uns selber denken;
unsere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menschen
oder kleinere Gesellschaften zum Gegenstand. Aber so-
bald wir in unsrer Meynung von uns selbst fallen,
sinkt durch eine innerliche Gewalt über welche wir nicht
Meister sind, unsre Meynung von der ganzen Gattung
zu welcher wir gehören; wir verwundern uns, daß
wir nicht eher wahrgenommen, daß die Thorheiten, die
Laster derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen
der Natur selbst sind, denen (mehr oder weniger, auf

diese
S 5

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
uͤber ſein Schikſal die ganze Obermacht, die ihm ſeine
Tugend uͤber ſie gab, fuͤhlen zu laſſen? Dieſe Art von
Stolz gleicht in ihren Wuͤrkungen der Wuth eines tapfern
Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die
Gewißheit des Todes, in den er ſich hineinſtuͤrzt, macht,
daß er Thaten eines Unſterblichen thut. Aber Agathon
hatte dermalen nicht mehr ſoviel Urſache, auf ſeine Tugend
ſtolz zu ſeyn. Eben dieſe enthuſiaſtiſche Gemuͤths-Be-
ſchaffenheit, welche ihm bey ſeiner Verbannung zu Athen
die Geſinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu
Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menſchen
ausgeſezt. Er dachte nicht mehr ſo groß von ſich ſelbſt,
und da ihm nun, in aͤhnlichen Umſtaͤnden, dieſer
heroiſche Stolz nicht mehr zu ſtatten kommen konnte,
ſo mußte ſich derſelbe nothwendig in diejenige Art von
Miſanthropie verwandeln, welche ſich uͤber die ganze
Gattung erſtrekt. Jn dieſem Stuͤke, wie in vielen
andern, iſt die Geſchichte Agathons die Geſchichte aller
Menſchen. Wir denken ſo lange groß von der menſch-
lichen Natur, als wir groß von uns ſelber denken;
unſere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menſchen
oder kleinere Geſellſchaften zum Gegenſtand. Aber ſo-
bald wir in unſrer Meynung von uns ſelbſt fallen,
ſinkt durch eine innerliche Gewalt uͤber welche wir nicht
Meiſter ſind, unſre Meynung von der ganzen Gattung
zu welcher wir gehoͤren; wir verwundern uns, daß
wir nicht eher wahrgenommen, daß die Thorheiten, die
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der Natur ſelbſt ſind, denen (mehr oder weniger, auf

dieſe
S 5
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[281/0283] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. uͤber ſein Schikſal die ganze Obermacht, die ihm ſeine Tugend uͤber ſie gab, fuͤhlen zu laſſen? Dieſe Art von Stolz gleicht in ihren Wuͤrkungen der Wuth eines tapfern Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die Gewißheit des Todes, in den er ſich hineinſtuͤrzt, macht, daß er Thaten eines Unſterblichen thut. Aber Agathon hatte dermalen nicht mehr ſoviel Urſache, auf ſeine Tugend ſtolz zu ſeyn. Eben dieſe enthuſiaſtiſche Gemuͤths-Be- ſchaffenheit, welche ihm bey ſeiner Verbannung zu Athen die Geſinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menſchen ausgeſezt. Er dachte nicht mehr ſo groß von ſich ſelbſt, und da ihm nun, in aͤhnlichen Umſtaͤnden, dieſer heroiſche Stolz nicht mehr zu ſtatten kommen konnte, ſo mußte ſich derſelbe nothwendig in diejenige Art von Miſanthropie verwandeln, welche ſich uͤber die ganze Gattung erſtrekt. Jn dieſem Stuͤke, wie in vielen andern, iſt die Geſchichte Agathons die Geſchichte aller Menſchen. Wir denken ſo lange groß von der menſch- lichen Natur, als wir groß von uns ſelber denken; unſere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menſchen oder kleinere Geſellſchaften zum Gegenſtand. Aber ſo- bald wir in unſrer Meynung von uns ſelbſt fallen, ſinkt durch eine innerliche Gewalt uͤber welche wir nicht Meiſter ſind, unſre Meynung von der ganzen Gattung zu welcher wir gehoͤren; wir verwundern uns, daß wir nicht eher wahrgenommen, daß die Thorheiten, die Laſter derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der Natur ſelbſt ſind, denen (mehr oder weniger, auf dieſe S 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/283>, abgerufen am 26.11.2024.