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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
die Scenen seiner glüklichen Jugend wirft; das Bild
der liebenswürdigen Psyche, welches durch alle Verän-
derungen, die in seiner Seele vorgegangen, nichts
von seinem Glanze verlohren hat; die Erinnerung die-
ser reinen, unbeschreiblichen, fast vergötternden Wol-
lust, in welcher sein Herz zerfloß, als er es noch in
seiner Gewalt hatte, Glükliche zu machen; und als die
Reinigkeit dieser göttlichen Lust noch durch keine Erfah-
rungen von der Undankbarkeit und Boßheit der Men-
schen verdüstert und trübe gemacht wurde -- diese Bil-
der, denen er sich noch so gerne überläßt -- welche sich
selbst in seinen Träumen seiner gerührten Seele so oft
und so lebhaft darstellen -- die Seufzer, die Wünsche,
die er diesen geliebten verschwindenden Schatten nach-
schikt -- alle diese Symptomen sind uns Bürge dafür,
daß er noch Agathon ist; daß die Veränderung in seinen
Begriffen und Urtheilen, die neue Theorie von allem
dem, was würklich ein Gegenstand unsrer Nachforschung
zu seyn verdient, oder von Eitelkeit und Vorwiz dazu
gemacht worden, welche sich in seiner Seele zu entwikeln
angefangen, die edlern Theile seines Herzens nicht ange-
griffen habe; kurz, daß wir uns Hofnung machen kön-
nen, aus dem Streit der beyden widerwärtigen und
feindlichen Geister, wodurch seine ganze innerliche Ver-
fassung seit einiger Zeit erschüttert, verwirrt und in
Gährung gesezt worden, zulezt eine eben so schöne Har-
monie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu se-
hen, wie nach dem System der alten Morgenländischen
Weisen, aus dem Streit der Finsterniß und des Lichts,
diese schöne Welt hervorgegangen seyn soll.

Agathon.
T 2

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
die Scenen ſeiner gluͤklichen Jugend wirft; das Bild
der liebenswuͤrdigen Pſyche, welches durch alle Veraͤn-
derungen, die in ſeiner Seele vorgegangen, nichts
von ſeinem Glanze verlohren hat; die Erinnerung die-
ſer reinen, unbeſchreiblichen, faſt vergoͤtternden Wol-
luſt, in welcher ſein Herz zerfloß, als er es noch in
ſeiner Gewalt hatte, Gluͤkliche zu machen; und als die
Reinigkeit dieſer goͤttlichen Luſt noch durch keine Erfah-
rungen von der Undankbarkeit und Boßheit der Men-
ſchen verduͤſtert und truͤbe gemacht wurde ‒‒ dieſe Bil-
der, denen er ſich noch ſo gerne uͤberlaͤßt ‒‒ welche ſich
ſelbſt in ſeinen Traͤumen ſeiner geruͤhrten Seele ſo oft
und ſo lebhaft darſtellen ‒‒ die Seufzer, die Wuͤnſche,
die er dieſen geliebten verſchwindenden Schatten nach-
ſchikt ‒‒ alle dieſe Symptomen ſind uns Buͤrge dafuͤr,
daß er noch Agathon iſt; daß die Veraͤnderung in ſeinen
Begriffen und Urtheilen, die neue Theorie von allem
dem, was wuͤrklich ein Gegenſtand unſrer Nachforſchung
zu ſeyn verdient, oder von Eitelkeit und Vorwiz dazu
gemacht worden, welche ſich in ſeiner Seele zu entwikeln
angefangen, die edlern Theile ſeines Herzens nicht ange-
griffen habe; kurz, daß wir uns Hofnung machen koͤn-
nen, aus dem Streit der beyden widerwaͤrtigen und
feindlichen Geiſter, wodurch ſeine ganze innerliche Ver-
faſſung ſeit einiger Zeit erſchuͤttert, verwirrt und in
Gaͤhrung geſezt worden, zulezt eine eben ſo ſchoͤne Har-
monie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu ſe-
hen, wie nach dem Syſtem der alten Morgenlaͤndiſchen
Weiſen, aus dem Streit der Finſterniß und des Lichts,
dieſe ſchoͤne Welt hervorgegangen ſeyn ſoll.

Agathon.
T 2
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[291/0293] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. die Scenen ſeiner gluͤklichen Jugend wirft; das Bild der liebenswuͤrdigen Pſyche, welches durch alle Veraͤn- derungen, die in ſeiner Seele vorgegangen, nichts von ſeinem Glanze verlohren hat; die Erinnerung die- ſer reinen, unbeſchreiblichen, faſt vergoͤtternden Wol- luſt, in welcher ſein Herz zerfloß, als er es noch in ſeiner Gewalt hatte, Gluͤkliche zu machen; und als die Reinigkeit dieſer goͤttlichen Luſt noch durch keine Erfah- rungen von der Undankbarkeit und Boßheit der Men- ſchen verduͤſtert und truͤbe gemacht wurde ‒‒ dieſe Bil- der, denen er ſich noch ſo gerne uͤberlaͤßt ‒‒ welche ſich ſelbſt in ſeinen Traͤumen ſeiner geruͤhrten Seele ſo oft und ſo lebhaft darſtellen ‒‒ die Seufzer, die Wuͤnſche, die er dieſen geliebten verſchwindenden Schatten nach- ſchikt ‒‒ alle dieſe Symptomen ſind uns Buͤrge dafuͤr, daß er noch Agathon iſt; daß die Veraͤnderung in ſeinen Begriffen und Urtheilen, die neue Theorie von allem dem, was wuͤrklich ein Gegenſtand unſrer Nachforſchung zu ſeyn verdient, oder von Eitelkeit und Vorwiz dazu gemacht worden, welche ſich in ſeiner Seele zu entwikeln angefangen, die edlern Theile ſeines Herzens nicht ange- griffen habe; kurz, daß wir uns Hofnung machen koͤn- nen, aus dem Streit der beyden widerwaͤrtigen und feindlichen Geiſter, wodurch ſeine ganze innerliche Ver- faſſung ſeit einiger Zeit erſchuͤttert, verwirrt und in Gaͤhrung geſezt worden, zulezt eine eben ſo ſchoͤne Har- monie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu ſe- hen, wie nach dem Syſtem der alten Morgenlaͤndiſchen Weiſen, aus dem Streit der Finſterniß und des Lichts, dieſe ſchoͤne Welt hervorgegangen ſeyn ſoll. Agathon. T 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/293>, abgerufen am 25.11.2024.