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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, erstes Capitel.
einem mehr als gewöhnlichen Grade moralischer Voll-
kommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit
da er seine Tugend erhöhte, so weise zu seyn, als man
seyn muß, um nicht mit den erhabensten Begriffen,
und den edelsten Gesinnungen, von sich selbst und von
andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche
ihn zu einer höhern Classe von Wesen als die gewöhn-
lichen Menschen sind, zu erheben schien, sezte ihn dem
Neid, der verkehrten Beurtheilung, den Nachstellungen
und Verfolgungen dieser Menschen aus; und machte
ihn, welches für seine Tugend das Schlimmste war,
unvermerkt vergessen, daß er im Grunde doch immer
weder mehr noch weniger sey, als ein Mensch. Die
Erfahrungen, die er endlich hierüber bekam, öfneten
ihm die Augen, und zerstreuten einen Theil der Bezau-
berung; er lernte sich selbst besser kennen; aber er
kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und gros-
ses Theater, auf welches er versezt wurde, half diesem
Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und ver-
vielfältigte Erfahrung stimmte seine allzuidealische Denk-
Art herab, und überführte ihn, daß er, wie der groß-
müthige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha
(dieses lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verir-
rungen des menschlichen Geistes!) Windmühlen für Rie-
sen, Wirthshäuser für bezauberte Schlösser, und
Dorf-Nymphen für göttliche Dulcineen angesehen hatte.
Er wurde weiser, aber auf Unkosten seiner Tugend.
So wie die Bezauberung seiner Einbildungs-Kraft vor-
gieng, hörte auch die Begierde auf, grosse Thaten zu

thun,
T 4

Eilftes Buch, erſtes Capitel.
einem mehr als gewoͤhnlichen Grade moraliſcher Voll-
kommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit
da er ſeine Tugend erhoͤhte, ſo weiſe zu ſeyn, als man
ſeyn muß, um nicht mit den erhabenſten Begriffen,
und den edelſten Geſinnungen, von ſich ſelbſt und von
andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche
ihn zu einer hoͤhern Claſſe von Weſen als die gewoͤhn-
lichen Menſchen ſind, zu erheben ſchien, ſezte ihn dem
Neid, der verkehrten Beurtheilung, den Nachſtellungen
und Verfolgungen dieſer Menſchen aus; und machte
ihn, welches fuͤr ſeine Tugend das Schlimmſte war,
unvermerkt vergeſſen, daß er im Grunde doch immer
weder mehr noch weniger ſey, als ein Menſch. Die
Erfahrungen, die er endlich hieruͤber bekam, oͤfneten
ihm die Augen, und zerſtreuten einen Theil der Bezau-
berung; er lernte ſich ſelbſt beſſer kennen; aber er
kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und groſ-
ſes Theater, auf welches er verſezt wurde, half dieſem
Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und ver-
vielfaͤltigte Erfahrung ſtimmte ſeine allzuidealiſche Denk-
Art herab, und uͤberfuͤhrte ihn, daß er, wie der groß-
muͤthige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha
(dieſes lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verir-
rungen des menſchlichen Geiſtes!) Windmuͤhlen fuͤr Rie-
ſen, Wirthshaͤuſer fuͤr bezauberte Schloͤſſer, und
Dorf-Nymphen fuͤr goͤttliche Dulcineen angeſehen hatte.
Er wurde weiſer, aber auf Unkoſten ſeiner Tugend.
So wie die Bezauberung ſeiner Einbildungs-Kraft vor-
gieng, hoͤrte auch die Begierde auf, groſſe Thaten zu

thun,
T 4
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[295/0297] Eilftes Buch, erſtes Capitel. einem mehr als gewoͤhnlichen Grade moraliſcher Voll- kommenheit enthielt, verhinderte ihn zu eben der Zeit da er ſeine Tugend erhoͤhte, ſo weiſe zu ſeyn, als man ſeyn muß, um nicht mit den erhabenſten Begriffen, und den edelſten Geſinnungen, von ſich ſelbſt und von andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken, welche ihn zu einer hoͤhern Claſſe von Weſen als die gewoͤhn- lichen Menſchen ſind, zu erheben ſchien, ſezte ihn dem Neid, der verkehrten Beurtheilung, den Nachſtellungen und Verfolgungen dieſer Menſchen aus; und machte ihn, welches fuͤr ſeine Tugend das Schlimmſte war, unvermerkt vergeſſen, daß er im Grunde doch immer weder mehr noch weniger ſey, als ein Menſch. Die Erfahrungen, die er endlich hieruͤber bekam, oͤfneten ihm die Augen, und zerſtreuten einen Theil der Bezau- berung; er lernte ſich ſelbſt beſſer kennen; aber er kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und groſ- ſes Theater, auf welches er verſezt wurde, half dieſem Mangel ab; eine immer weiter ausgebreitete und ver- vielfaͤltigte Erfahrung ſtimmte ſeine allzuidealiſche Denk- Art herab, und uͤberfuͤhrte ihn, daß er, wie der groß- muͤthige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha (dieſes lehrreiche Bild der Schwachheiten und Verir- rungen des menſchlichen Geiſtes!) Windmuͤhlen fuͤr Rie- ſen, Wirthshaͤuſer fuͤr bezauberte Schloͤſſer, und Dorf-Nymphen fuͤr goͤttliche Dulcineen angeſehen hatte. Er wurde weiſer, aber auf Unkoſten ſeiner Tugend. So wie die Bezauberung ſeiner Einbildungs-Kraft vor- gieng, hoͤrte auch die Begierde auf, groſſe Thaten zu thun, T 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/297>, abgerufen am 24.11.2024.