Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Eilftes Buch, zweytes Capitel. einzunehmen schien, war nicht dieses seltsame zauberischeGefühl, womit ihn die Schönheiten der Natur und die Empfindung ihrer reinsten Triebe, in seiner Jugend durchdrungen hatte -- dieses Gefühl, diese Blüthe der Empfindlichkeit, diese zärtliche Sympathie mit allem was lebt oder zu leben scheint; dieser Geist der Freude, der uns aus allen Gegenständen entgegenathmet; dieser magische Firniß der sie überzieht, und uns über einem Anblik, von dem wir zehn Jahre später kaum noch flüchtig gerührt werden, in stillem Entzüken zerfliessen macht -- dieses beneidenswürdige Vorrecht der ersten Jugend verliehrt sich mit dem Anwachs unsrer Jahre unvermerkt, und kan nicht wieder gefunden werden; aber es war etwas, das ihm ähnlich war; seine Seele schien dadurch wie von allen verdüsternden Fleken seines unmittelbar vorhergehenden Zustandes ausgewaschen, und zu den zärtlichen Eindrüken vorbereitet zu werden, welche sie in dieser ueuen Periode seines Lebens bekom- men sollte. Eine seiner glükseligsten Stunden, (wie er in der Euro- [Agath. II. Th.] U
Eilftes Buch, zweytes Capitel. einzunehmen ſchien, war nicht dieſes ſeltſame zauberiſcheGefuͤhl, womit ihn die Schoͤnheiten der Natur und die Empfindung ihrer reinſten Triebe, in ſeiner Jugend durchdrungen hatte ‒‒ dieſes Gefuͤhl, dieſe Bluͤthe der Empfindlichkeit, dieſe zaͤrtliche Sympathie mit allem was lebt oder zu leben ſcheint; dieſer Geiſt der Freude, der uns aus allen Gegenſtaͤnden entgegenathmet; dieſer magiſche Firniß der ſie uͤberzieht, und uns uͤber einem Anblik, von dem wir zehn Jahre ſpaͤter kaum noch fluͤchtig geruͤhrt werden, in ſtillem Entzuͤken zerflieſſen macht ‒‒ dieſes beneidenswuͤrdige Vorrecht der erſten Jugend verliehrt ſich mit dem Anwachs unſrer Jahre unvermerkt, und kan nicht wieder gefunden werden; aber es war etwas, das ihm aͤhnlich war; ſeine Seele ſchien dadurch wie von allen verduͤſternden Fleken ſeines unmittelbar vorhergehenden Zuſtandes ausgewaſchen, und zu den zaͤrtlichen Eindruͤken vorbereitet zu werden, welche ſie in dieſer ueuen Periode ſeines Lebens bekom- men ſollte. Eine ſeiner gluͤkſeligſten Stunden, (wie er in der Euro- [Agath. II. Th.] U
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Eilftes Buch, zweytes Capitel.
einzunehmen ſchien, war nicht dieſes ſeltſame zauberiſche
Gefuͤhl, womit ihn die Schoͤnheiten der Natur und die
Empfindung ihrer reinſten Triebe, in ſeiner Jugend
durchdrungen hatte ‒‒ dieſes Gefuͤhl, dieſe Bluͤthe der
Empfindlichkeit, dieſe zaͤrtliche Sympathie mit allem
was lebt oder zu leben ſcheint; dieſer Geiſt der Freude,
der uns aus allen Gegenſtaͤnden entgegenathmet; dieſer
magiſche Firniß der ſie uͤberzieht, und uns uͤber einem
Anblik, von dem wir zehn Jahre ſpaͤter kaum noch
fluͤchtig geruͤhrt werden, in ſtillem Entzuͤken zerflieſſen
macht ‒‒ dieſes beneidenswuͤrdige Vorrecht der erſten
Jugend verliehrt ſich mit dem Anwachs unſrer Jahre
unvermerkt, und kan nicht wieder gefunden werden;
aber es war etwas, das ihm aͤhnlich war; ſeine Seele
ſchien dadurch wie von allen verduͤſternden Fleken ſeines
unmittelbar vorhergehenden Zuſtandes ausgewaſchen,
und zu den zaͤrtlichen Eindruͤken vorbereitet zu werden,
welche ſie in dieſer ueuen Periode ſeines Lebens bekom-
men ſollte.
Eine ſeiner gluͤkſeligſten Stunden, (wie er in der
Folge oͤfters zu verſichern pflegte) war diejenige, worinn
er die perſoͤnliche Bekanntſchaft des Archytas machte.
Dieſer ehrwuͤrdige Greis hatte der Natur und der Maͤſ-
ſigung, welche von ſeiner Jugend an ein unterſcheiden-
der Zug ſeines Characters geweſen war, den Vortheil
einer Lebhaftigkeit aller Kraͤfte zu damen, welche in
ſeinem Alter etwas ſeltnes iſt, aber bey den alten
Griechen lange nicht ſo ſelten war, als bey den meiſten
Euro-
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