Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. Europäischen Völkern unsrer Zeit, bey denen es zurGewohnheit zu werden angefangen hat, die erste Hälfte des Lebens so unbesonnen zu verschwenden, daß man in der andern die geheimsten Kräfte der Arzney-Kunst zu Hülfe ruffen muß, um einen schmachtenden Mittel- stand von Seyn und Nichtseyn, von einem Tag zum andern erbettelter Weise fortschleppen zu können. So erkaltet als die Einbildungs-Kraft unsers Helden war, so konnte er doch nicht anders als etwas idealisches in dem Gemische von Majestät und Anmuth, welches über die ganze Person dieses liebenswürdigen Alten ausge- breitet war, zu empfinden -- und es desto stärker zu empfinden, je stärker der Absaz war, den dieser Anblik mit allem demjenigen machte, woran sich seine Augen seit geraumer Zeit hatten gewöhnen müssen -- Und warum konnte er nicht anders? Die Ursache ist ganz simpel; weil dieses idealische nicht in seinem Gehirne, sondern in dem Gegenstande selbst war. Stellet euch einen grossen stattlichen Mann vor, dessen Ansehen beym ersten Blik ankündiget, daß er dazu gemacht ist, andre zu regieren, und dem ihr ungeachtet seiner silbernen Haare noch ganz wol ansehen könnet, daß er vor fünf- zig Jahren ein schöner Mann gewesen ist -- Jhr erin- nert euch ohne Zweifel dergleichen gesehen zu haben; aber das ist es noch nicht -- Stellet euch vor, daß die- ser Mann in dem ganzen Lauffe seines Lebens ein tu- gendhafter Mann gewesen ist; daß eine lange Reyhe von Jahren seine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß die unbewölkte Heiterkeit seiner Seele, die Ruhe seines Herzens,
Agathon. Europaͤiſchen Voͤlkern unſrer Zeit, bey denen es zurGewohnheit zu werden angefangen hat, die erſte Haͤlfte des Lebens ſo unbeſonnen zu verſchwenden, daß man in der andern die geheimſten Kraͤfte der Arzney-Kunſt zu Huͤlfe ruffen muß, um einen ſchmachtenden Mittel- ſtand von Seyn und Nichtſeyn, von einem Tag zum andern erbettelter Weiſe fortſchleppen zu koͤnnen. So erkaltet als die Einbildungs-Kraft unſers Helden war, ſo konnte er doch nicht anders als etwas idealiſches in dem Gemiſche von Majeſtaͤt und Anmuth, welches uͤber die ganze Perſon dieſes liebenswuͤrdigen Alten ausge- breitet war, zu empfinden ‒‒ und es deſto ſtaͤrker zu empfinden, je ſtaͤrker der Abſaz war, den dieſer Anblik mit allem demjenigen machte, woran ſich ſeine Augen ſeit geraumer Zeit hatten gewoͤhnen muͤſſen ‒‒ Und warum konnte er nicht anders? Die Urſache iſt ganz ſimpel; weil dieſes idealiſche nicht in ſeinem Gehirne, ſondern in dem Gegenſtande ſelbſt war. Stellet euch einen groſſen ſtattlichen Mann vor, deſſen Anſehen beym erſten Blik ankuͤndiget, daß er dazu gemacht iſt, andre zu regieren, und dem ihr ungeachtet ſeiner ſilbernen Haare noch ganz wol anſehen koͤnnet, daß er vor fuͤnf- zig Jahren ein ſchoͤner Mann geweſen iſt ‒‒ Jhr erin- nert euch ohne Zweifel dergleichen geſehen zu haben; aber das iſt es noch nicht ‒‒ Stellet euch vor, daß die- ſer Mann in dem ganzen Lauffe ſeines Lebens ein tu- gendhafter Mann geweſen iſt; daß eine lange Reyhe von Jahren ſeine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß die unbewoͤlkte Heiterkeit ſeiner Seele, die Ruhe ſeines Herzens,
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Agathon.
Europaͤiſchen Voͤlkern unſrer Zeit, bey denen es zur
Gewohnheit zu werden angefangen hat, die erſte Haͤlfte
des Lebens ſo unbeſonnen zu verſchwenden, daß man
in der andern die geheimſten Kraͤfte der Arzney-Kunſt
zu Huͤlfe ruffen muß, um einen ſchmachtenden Mittel-
ſtand von Seyn und Nichtſeyn, von einem Tag zum
andern erbettelter Weiſe fortſchleppen zu koͤnnen. So
erkaltet als die Einbildungs-Kraft unſers Helden war,
ſo konnte er doch nicht anders als etwas idealiſches in
dem Gemiſche von Majeſtaͤt und Anmuth, welches uͤber
die ganze Perſon dieſes liebenswuͤrdigen Alten ausge-
breitet war, zu empfinden ‒‒ und es deſto ſtaͤrker zu
empfinden, je ſtaͤrker der Abſaz war, den dieſer Anblik
mit allem demjenigen machte, woran ſich ſeine Augen
ſeit geraumer Zeit hatten gewoͤhnen muͤſſen ‒‒ Und
warum konnte er nicht anders? Die Urſache iſt ganz
ſimpel; weil dieſes idealiſche nicht in ſeinem Gehirne,
ſondern in dem Gegenſtande ſelbſt war. Stellet euch
einen groſſen ſtattlichen Mann vor, deſſen Anſehen beym
erſten Blik ankuͤndiget, daß er dazu gemacht iſt, andre
zu regieren, und dem ihr ungeachtet ſeiner ſilbernen
Haare noch ganz wol anſehen koͤnnet, daß er vor fuͤnf-
zig Jahren ein ſchoͤner Mann geweſen iſt ‒‒ Jhr erin-
nert euch ohne Zweifel dergleichen geſehen zu haben;
aber das iſt es noch nicht ‒‒ Stellet euch vor, daß die-
ſer Mann in dem ganzen Lauffe ſeines Lebens ein tu-
gendhafter Mann geweſen iſt; daß eine lange Reyhe
von Jahren ſeine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß
die unbewoͤlkte Heiterkeit ſeiner Seele, die Ruhe ſeines
Herzens,
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