Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. verbessern lassen, ohne das Ganze zu vernichten? Wieviel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler ist, der dem schönen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit raubt? Ein Gefühl von dieser Art war schmerzhaft ge- nug, um unsern Mann zu vermögen, über die Ursa- chen seines Falles schärfer nachzudenken. Wie erröthete er izt vor sich selbst, da er sich der allzutrozigen Her- ausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hip- pias gereizt, und gewissermassen berechtiget hatte, den Versuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe, welche die Probe der stärksten und schlauesten Verfüh- rung aushalte -- Was machte ihn damals so zu- versichtlich? -- die Erinnerung des Sieges, den er über die Priesterinn zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwärtige Bewustseyn der Gleichgültigkeit, wor- inn er bey den Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung, daß die Versuchungen, welche seiner Unschuld im Hause des Sophisten auf allen Sei- ten nachstellten, ihn weniger versucht als empört hat- ten? -- der Abscheu vor den Grundsäzen des Hip- pias -- und das Vertrauen auf die eigentümliche Stärke der seinigen? -- Aber, war es eine Folge, daß derjenige, der etliche mal gesiegt hatte, niemals überwunden werden könne? War nicht eine Danae mög- lich, welche das auszuführen geschikt war, was die Pythia, was die Thrazischen Bacchautinnen, was Cy- ane, und vielleicht alle Schönen im Serail des Königs von Persien nicht vermochten, oder vermocht hätten? -- Und
Agathon. verbeſſern laſſen, ohne das Ganze zu vernichten? Wieviel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler iſt, der dem ſchoͤnen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit raubt? Ein Gefuͤhl von dieſer Art war ſchmerzhaft ge- nug, um unſern Mann zu vermoͤgen, uͤber die Urſa- chen ſeines Falles ſchaͤrfer nachzudenken. Wie erroͤthete er izt vor ſich ſelbſt, da er ſich der allzutrozigen Her- ausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hip- pias gereizt, und gewiſſermaſſen berechtiget hatte, den Verſuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe, welche die Probe der ſtaͤrkſten und ſchlaueſten Verfuͤh- rung aushalte — Was machte ihn damals ſo zu- verſichtlich? — die Erinnerung des Sieges, den er uͤber die Prieſterinn zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwaͤrtige Bewuſtſeyn der Gleichguͤltigkeit, wor- inn er bey den Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung, daß die Verſuchungen, welche ſeiner Unſchuld im Hauſe des Sophiſten auf allen Sei- ten nachſtellten, ihn weniger verſucht als empoͤrt hat- ten? — der Abſcheu vor den Grundſaͤzen des Hip- pias — und das Vertrauen auf die eigentuͤmliche Staͤrke der ſeinigen? — Aber, war es eine Folge, daß derjenige, der etliche mal geſiegt hatte, niemals uͤberwunden werden koͤnne? War nicht eine Danae moͤg- lich, welche das auszufuͤhren geſchikt war, was die Pythia, was die Thraziſchen Bacchautinnen, was Cy- ane, und vielleicht alle Schoͤnen im Serail des Koͤnigs von Perſien nicht vermochten, oder vermocht haͤtten? — Und
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0060" n="58"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> verbeſſern laſſen, ohne das Ganze zu vernichten? Wie<lb/> viel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler iſt,<lb/> der dem ſchoͤnen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit<lb/> raubt? Ein Gefuͤhl von dieſer Art war ſchmerzhaft ge-<lb/> nug, um unſern Mann zu vermoͤgen, uͤber die Urſa-<lb/> chen ſeines Falles ſchaͤrfer nachzudenken. Wie erroͤthete<lb/> er izt vor ſich ſelbſt, da er ſich der allzutrozigen Her-<lb/> ausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hip-<lb/> pias gereizt, und gewiſſermaſſen berechtiget hatte, den<lb/> Verſuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe,<lb/> welche die Probe der ſtaͤrkſten und ſchlaueſten Verfuͤh-<lb/> rung aushalte — Was machte ihn damals ſo zu-<lb/> verſichtlich? — die Erinnerung des Sieges, den<lb/> er uͤber die Prieſterinn zu Delphi erhalten hatte? Oder<lb/> das gegenwaͤrtige Bewuſtſeyn der Gleichguͤltigkeit, wor-<lb/> inn er bey den Reizungen der jungen Cyane geblieben<lb/> war? Die Erfahrung, daß die Verſuchungen, welche<lb/> ſeiner Unſchuld im Hauſe des Sophiſten auf allen Sei-<lb/> ten nachſtellten, ihn weniger verſucht als empoͤrt hat-<lb/> ten? — der Abſcheu vor den Grundſaͤzen des Hip-<lb/> pias — und das Vertrauen auf die eigentuͤmliche<lb/> Staͤrke der ſeinigen? — Aber, war es eine Folge,<lb/> daß derjenige, der etliche mal geſiegt hatte, niemals<lb/> uͤberwunden werden koͤnne? War nicht eine Danae moͤg-<lb/> lich, welche das auszufuͤhren geſchikt war, was die<lb/> Pythia, was die Thraziſchen Bacchautinnen, was Cy-<lb/> ane, und vielleicht alle Schoͤnen im Serail des Koͤnigs<lb/> von Perſien nicht vermochten, oder vermocht haͤtten? —<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Und</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0060]
Agathon.
verbeſſern laſſen, ohne das Ganze zu vernichten? Wie
viel verdrießlicher, wenn es nur ein einziger Fehler iſt,
der dem ſchoͤnen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit
raubt? Ein Gefuͤhl von dieſer Art war ſchmerzhaft ge-
nug, um unſern Mann zu vermoͤgen, uͤber die Urſa-
chen ſeines Falles ſchaͤrfer nachzudenken. Wie erroͤthete
er izt vor ſich ſelbſt, da er ſich der allzutrozigen Her-
ausforderung erinnerte, wodurch er ehmals den Hip-
pias gereizt, und gewiſſermaſſen berechtiget hatte, den
Verſuch an ihm zu machen, ob es eine Tugend gebe,
welche die Probe der ſtaͤrkſten und ſchlaueſten Verfuͤh-
rung aushalte — Was machte ihn damals ſo zu-
verſichtlich? — die Erinnerung des Sieges, den
er uͤber die Prieſterinn zu Delphi erhalten hatte? Oder
das gegenwaͤrtige Bewuſtſeyn der Gleichguͤltigkeit, wor-
inn er bey den Reizungen der jungen Cyane geblieben
war? Die Erfahrung, daß die Verſuchungen, welche
ſeiner Unſchuld im Hauſe des Sophiſten auf allen Sei-
ten nachſtellten, ihn weniger verſucht als empoͤrt hat-
ten? — der Abſcheu vor den Grundſaͤzen des Hip-
pias — und das Vertrauen auf die eigentuͤmliche
Staͤrke der ſeinigen? — Aber, war es eine Folge,
daß derjenige, der etliche mal geſiegt hatte, niemals
uͤberwunden werden koͤnne? War nicht eine Danae moͤg-
lich, welche das auszufuͤhren geſchikt war, was die
Pythia, was die Thraziſchen Bacchautinnen, was Cy-
ane, und vielleicht alle Schoͤnen im Serail des Koͤnigs
von Perſien nicht vermochten, oder vermocht haͤtten? —
Und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |