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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, sechstes Capitel.
der Homerische Ulyß in der Jnsel der Calypso, sich
in dem bezauberten Grunde der Wollust hatte aufhal-
ten lassen, sein erstes Vorhaben, die Schüler des Zo-
roasters und die Priester zu Sais zu besuchen, sobald
als ihm Danae seine Freyheit wieder geschenkt hatte,
ins Werk zu sezen. Kurz, seine Erfahrungen machten
ihm die Wahrheit seiner ehemaligen Denkungs-Art ver-
dächtig, ohne ihm einen gewissen geheimen Hang zu
seinen alten Lieblings-Jdeen benehmen zu können. Seine
Vernunft konnte in diesem Stüke mit seinem Herzen
und sein Herz mit sich selbst nicht recht einig werden;
und er war nicht ruhig genug, oder vielleicht auch zu
träge, seine nunmehrige Begriffe in ein System zu
bringen, wodurch beyde hatten befriedigt werden kön-
nen. Jn der That ist ein Schiff eben nicht der be-
quemste Ort, ein solches Werk, wozu die Stille eines
dunkeln Hayns kaum stille genug ist, zu Stande zu
bringen; und Agathon mag daher zu entschuldigen
seyn, daß er diese Arbeit verschob, ob es gleich eine
von denen ist, welche sich so wenig aufschieben lassen,
als die Ausbesserung eines baufälligen Gebäudes; denn
so wie dieses mit jedem Tage, um den seine Wiederher-
stellung aufgeschoben wird, dem gänzlichen Einsturz näher
kommt; so pflegen auch die Lüken in unsern moralischen
Begriffen und die Mißhelligkeiten zwischen dem Kopf und
dem Herzen immer grösser und gefährlicher zu werden,
je länger wir es aufschieben sie mit der erforderlichen
Aufmerksamkeit zu untersuchen, und eine richtige Ver-

bindung
[Agath. II. Th.] E

Achtes Buch, ſechstes Capitel.
der Homeriſche Ulyß in der Jnſel der Calypſo, ſich
in dem bezauberten Grunde der Wolluſt hatte aufhal-
ten laſſen, ſein erſtes Vorhaben, die Schuͤler des Zo-
roaſters und die Prieſter zu Sais zu beſuchen, ſobald
als ihm Danae ſeine Freyheit wieder geſchenkt hatte,
ins Werk zu ſezen. Kurz, ſeine Erfahrungen machten
ihm die Wahrheit ſeiner ehemaligen Denkungs-Art ver-
daͤchtig, ohne ihm einen gewiſſen geheimen Hang zu
ſeinen alten Lieblings-Jdeen benehmen zu koͤnnen. Seine
Vernunft konnte in dieſem Stuͤke mit ſeinem Herzen
und ſein Herz mit ſich ſelbſt nicht recht einig werden;
und er war nicht ruhig genug, oder vielleicht auch zu
traͤge, ſeine nunmehrige Begriffe in ein Syſtem zu
bringen, wodurch beyde hatten befriedigt werden koͤn-
nen. Jn der That iſt ein Schiff eben nicht der be-
quemſte Ort, ein ſolches Werk, wozu die Stille eines
dunkeln Hayns kaum ſtille genug iſt, zu Stande zu
bringen; und Agathon mag daher zu entſchuldigen
ſeyn, daß er dieſe Arbeit verſchob, ob es gleich eine
von denen iſt, welche ſich ſo wenig aufſchieben laſſen,
als die Ausbeſſerung eines baufaͤlligen Gebaͤudes; denn
ſo wie dieſes mit jedem Tage, um den ſeine Wiederher-
ſtellung aufgeſchoben wird, dem gaͤnzlichen Einſturz naͤher
kommt; ſo pflegen auch die Luͤken in unſern moraliſchen
Begriffen und die Mißhelligkeiten zwiſchen dem Kopf und
dem Herzen immer groͤſſer und gefaͤhrlicher zu werden,
je laͤnger wir es aufſchieben ſie mit der erforderlichen
Aufmerkſamkeit zu unterſuchen, und eine richtige Ver-

bindung
[Agath. II. Th.] E
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[65/0067] Achtes Buch, ſechstes Capitel. der Homeriſche Ulyß in der Jnſel der Calypſo, ſich in dem bezauberten Grunde der Wolluſt hatte aufhal- ten laſſen, ſein erſtes Vorhaben, die Schuͤler des Zo- roaſters und die Prieſter zu Sais zu beſuchen, ſobald als ihm Danae ſeine Freyheit wieder geſchenkt hatte, ins Werk zu ſezen. Kurz, ſeine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit ſeiner ehemaligen Denkungs-Art ver- daͤchtig, ohne ihm einen gewiſſen geheimen Hang zu ſeinen alten Lieblings-Jdeen benehmen zu koͤnnen. Seine Vernunft konnte in dieſem Stuͤke mit ſeinem Herzen und ſein Herz mit ſich ſelbſt nicht recht einig werden; und er war nicht ruhig genug, oder vielleicht auch zu traͤge, ſeine nunmehrige Begriffe in ein Syſtem zu bringen, wodurch beyde hatten befriedigt werden koͤn- nen. Jn der That iſt ein Schiff eben nicht der be- quemſte Ort, ein ſolches Werk, wozu die Stille eines dunkeln Hayns kaum ſtille genug iſt, zu Stande zu bringen; und Agathon mag daher zu entſchuldigen ſeyn, daß er dieſe Arbeit verſchob, ob es gleich eine von denen iſt, welche ſich ſo wenig aufſchieben laſſen, als die Ausbeſſerung eines baufaͤlligen Gebaͤudes; denn ſo wie dieſes mit jedem Tage, um den ſeine Wiederher- ſtellung aufgeſchoben wird, dem gaͤnzlichen Einſturz naͤher kommt; ſo pflegen auch die Luͤken in unſern moraliſchen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwiſchen dem Kopf und dem Herzen immer groͤſſer und gefaͤhrlicher zu werden, je laͤnger wir es aufſchieben ſie mit der erforderlichen Aufmerkſamkeit zu unterſuchen, und eine richtige Ver- bindung [Agath. II. Th.] E

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/67>, abgerufen am 22.11.2024.