Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
60.
Wie? ruft sie aus, so kann mein Gangolf sprechen?
Weh mir! ach! zu gewiß muß etwas, was es sey,
An meinem zauberwerk gebrechen;
Dein aug' ist offenbar noch nicht von wolken frey!
Wie könntst du sonst, mit solchen harten reden
Dein treues weib zu morden, dich entblöden?
Dein sehen kann kein wahres sehen seyn,
Es ist das flimmern nur von ungewissem schein.
61.
O! daß es möglich wär' mich selbst zu hintergehen,
Spricht Gangolf; wohl dem mann den nur ein argwohn plagt!
Ich unglüksel'ger hab's gesehen!
Gesehen was ich sah! -- "Dem Himmel sey's geklagt!
Ward je ein weib unglüklicher geboren?"
(Schreyt die verrätherin mit einem thränenguß)
"O! daß ich diesen schmerz noch überleben muß!
Mein armer mann hat den verstand verloren!"
62.
Und welcher mann von zärtlichem gemüt
Verlöhr ihn nicht, troz allen seinen sinnen,
Der thränengüsse aus so schönen augen rinnen,
Und eine solche brust von seufzern schwellen sieht?
Der Alte kann nicht länger widerstehen:
Gieb dich zufrieden, Kind, ich war zu rasch, zu warm;
Verzeih, und komm herab in deines Gangolfs arm,
Es ist nun sonnenklar, ich hatte falsch gesehen!
63. Da
K 5
60.
Wie? ruft ſie aus, ſo kann mein Gangolf ſprechen?
Weh mir! ach! zu gewiß muß etwas, was es ſey,
An meinem zauberwerk gebrechen;
Dein aug' iſt offenbar noch nicht von wolken frey!
Wie koͤnntſt du ſonſt, mit ſolchen harten reden
Dein treues weib zu morden, dich entbloͤden?
Dein ſehen kann kein wahres ſehen ſeyn,
Es iſt das flimmern nur von ungewiſſem ſchein.
61.
O! daß es moͤglich waͤr' mich ſelbſt zu hintergehen,
Spricht Gangolf; wohl dem mann den nur ein argwohn plagt!
Ich ungluͤkſel'ger hab's geſehen!
Geſehen was ich ſah! — „Dem Himmel ſey's geklagt!
Ward je ein weib ungluͤklicher geboren?“
(Schreyt die verraͤtherin mit einem thraͤnenguß)
„O! daß ich dieſen ſchmerz noch uͤberleben muß!
Mein armer mann hat den verſtand verloren!“
62.
Und welcher mann von zaͤrtlichem gemuͤt
Verloͤhr ihn nicht, troz allen ſeinen ſinnen,
Der thraͤnenguͤſſe aus ſo ſchoͤnen augen rinnen,
Und eine ſolche bruſt von ſeufzern ſchwellen ſieht?
Der Alte kann nicht laͤnger widerſtehen:
Gieb dich zufrieden, Kind, ich war zu raſch, zu warm;
Verzeih, und komm herab in deines Gangolfs arm,
Es iſt nun ſonnenklar, ich hatte falſch geſehen!
63. Da
K 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0159"/>
            <lg n="60">
              <head> <hi rendition="#c">60.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">W</hi>ie? ruft &#x017F;ie aus, &#x017F;o kann mein Gangolf &#x017F;prechen?</l><lb/>
              <l>Weh mir! ach! zu gewiß muß etwas, was es &#x017F;ey,</l><lb/>
              <l>An meinem zauberwerk gebrechen;</l><lb/>
              <l>Dein aug' i&#x017F;t offenbar noch nicht von wolken frey!</l><lb/>
              <l>Wie ko&#x0364;nnt&#x017F;t du &#x017F;on&#x017F;t, mit &#x017F;olchen harten reden</l><lb/>
              <l>Dein treues weib zu morden, dich entblo&#x0364;den?</l><lb/>
              <l>Dein &#x017F;ehen kann kein wahres &#x017F;ehen &#x017F;eyn,</l><lb/>
              <l>Es i&#x017F;t das flimmern nur von <choice><sic>ungewi&#x017F;&#x017F;en</sic><corr>ungewi&#x017F;&#x017F;em</corr></choice> &#x017F;chein.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="61">
              <head> <hi rendition="#c">61.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">O</hi>! daß es mo&#x0364;glich wa&#x0364;r' mich &#x017F;elb&#x017F;t zu hintergehen,</l><lb/>
              <l>Spricht Gangolf; wohl dem mann den nur ein argwohn plagt!</l><lb/>
              <l>Ich unglu&#x0364;k&#x017F;el'ger hab's ge&#x017F;ehen!</l><lb/>
              <l>Ge&#x017F;ehen was ich &#x017F;ah! &#x2014; &#x201E;Dem Himmel &#x017F;ey's geklagt!</l><lb/>
              <l>Ward je ein weib unglu&#x0364;klicher geboren?&#x201C;</l><lb/>
              <l>(Schreyt die verra&#x0364;therin mit einem thra&#x0364;nenguß)</l><lb/>
              <l>&#x201E;O! daß ich die&#x017F;en &#x017F;chmerz noch u&#x0364;berleben muß!</l><lb/>
              <l>Mein armer mann hat den ver&#x017F;tand verloren!&#x201C;</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="62">
              <head> <hi rendition="#c">62.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">U</hi>nd welcher mann von za&#x0364;rtlichem gemu&#x0364;t</l><lb/>
              <l>Verlo&#x0364;hr ihn nicht, troz allen &#x017F;einen &#x017F;innen,</l><lb/>
              <l>Der thra&#x0364;nengu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e aus &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;nen augen rinnen,</l><lb/>
              <l>Und eine &#x017F;olche bru&#x017F;t von &#x017F;eufzern &#x017F;chwellen &#x017F;ieht?</l><lb/>
              <l>Der Alte kann nicht la&#x0364;nger wider&#x017F;tehen:</l><lb/>
              <l>Gieb dich zufrieden, Kind, ich war zu ra&#x017F;ch, zu warm;</l><lb/>
              <l>Verzeih, und komm herab in deines Gangolfs arm,</l><lb/>
              <l>Es i&#x017F;t nun &#x017F;onnenklar, ich hatte fal&#x017F;ch ge&#x017F;ehen!</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">K 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">63. Da</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0159] 60. Wie? ruft ſie aus, ſo kann mein Gangolf ſprechen? Weh mir! ach! zu gewiß muß etwas, was es ſey, An meinem zauberwerk gebrechen; Dein aug' iſt offenbar noch nicht von wolken frey! Wie koͤnntſt du ſonſt, mit ſolchen harten reden Dein treues weib zu morden, dich entbloͤden? Dein ſehen kann kein wahres ſehen ſeyn, Es iſt das flimmern nur von ungewiſſem ſchein. 61. O! daß es moͤglich waͤr' mich ſelbſt zu hintergehen, Spricht Gangolf; wohl dem mann den nur ein argwohn plagt! Ich ungluͤkſel'ger hab's geſehen! Geſehen was ich ſah! — „Dem Himmel ſey's geklagt! Ward je ein weib ungluͤklicher geboren?“ (Schreyt die verraͤtherin mit einem thraͤnenguß) „O! daß ich dieſen ſchmerz noch uͤberleben muß! Mein armer mann hat den verſtand verloren!“ 62. Und welcher mann von zaͤrtlichem gemuͤt Verloͤhr ihn nicht, troz allen ſeinen ſinnen, Der thraͤnenguͤſſe aus ſo ſchoͤnen augen rinnen, Und eine ſolche bruſt von ſeufzern ſchwellen ſieht? Der Alte kann nicht laͤnger widerſtehen: Gieb dich zufrieden, Kind, ich war zu raſch, zu warm; Verzeih, und komm herab in deines Gangolfs arm, Es iſt nun ſonnenklar, ich hatte falſch geſehen! 63. Da K 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/159
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/159>, abgerufen am 16.05.2024.