Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
42.
Kaum hat er athemlos den lezten tritt erstiegen
So stellt ein Paradies sich seinen augen dar:
Und vor ihm steht ein Mann von edeln ernsten zügen,
Mit langem weißen bart und silberweißem haar.
Ein breiter gürtel schließt des braunen rockes falten,
Und an dem gürtel hängt ein langer rosenkranz.
Bey diesem ansehn war's, an solchem orte, ganz
Natürlich, ihn sogleich für was er war zu halten.
43.
Doch Hüon -- schwach vor hunger, und erstarrt
Vor müdigkeit, und nun, in diesen wilden höhen,
Wo er so lang umsonst auf Menschenanblik harrt,
Und von der felsen stirn, die ringsum vor ihm stehen,
Uralte tannen nur auf ihn herunter wehen,
Auf einmal überrascht von einem weißen bart,
Der ihn so lieblich schrekt -- glaubt ein Gesicht zu sehen,
Und sinkt zur erde hin vor seiner gegenwart.
44.
Der Eremit, kaum weniger betroffen
Als Hüon selbst, bebt einen schritt zurük;
Doch spricht er, schnell gefaßt: hast du, wie mich dein blik
Und ansehn glauben heißt, erlösung noch zu hoffen
Aus deiner pein, so sprich, was kann ich für dich thun,
Gequälter geist, wie kann ich für dich büßen,
Um jenen port dir aufzuschließen
Wo, unberührt von quaal, die Frommen ewig ruhn?
45. So
42.
Kaum hat er athemlos den lezten tritt erſtiegen
So ſtellt ein Paradies ſich ſeinen augen dar:
Und vor ihm ſteht ein Mann von edeln ernſten zuͤgen,
Mit langem weißen bart und ſilberweißem haar.
Ein breiter guͤrtel ſchließt des braunen rockes falten,
Und an dem guͤrtel haͤngt ein langer roſenkranz.
Bey dieſem anſehn war's, an ſolchem orte, ganz
Natuͤrlich, ihn ſogleich fuͤr was er war zu halten.
43.
Doch Huͤon — ſchwach vor hunger, und erſtarrt
Vor muͤdigkeit, und nun, in dieſen wilden hoͤhen,
Wo er ſo lang umſonſt auf Menſchenanblik harrt,
Und von der felſen ſtirn, die ringsum vor ihm ſtehen,
Uralte tannen nur auf ihn herunter wehen,
Auf einmal uͤberraſcht von einem weißen bart,
Der ihn ſo lieblich ſchrekt — glaubt ein Geſicht zu ſehen,
Und ſinkt zur erde hin vor ſeiner gegenwart.
44.
Der Eremit, kaum weniger betroffen
Als Huͤon ſelbſt, bebt einen ſchritt zuruͤk;
Doch ſpricht er, ſchnell gefaßt: haſt du, wie mich dein blik
Und anſehn glauben heißt, erloͤſung noch zu hoffen
Aus deiner pein, ſo ſprich, was kann ich fuͤr dich thun,
Gequaͤlter geiſt, wie kann ich fuͤr dich buͤßen,
Um jenen port dir aufzuſchließen
Wo, unberuͤhrt von quaal, die Frommen ewig ruhn?
45. So
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0198"/>
            <lg n="42">
              <head> <hi rendition="#c">42.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">K</hi>aum hat er athemlos den lezten tritt er&#x017F;tiegen</l><lb/>
              <l>So &#x017F;tellt ein Paradies &#x017F;ich &#x017F;einen augen dar:</l><lb/>
              <l>Und vor ihm &#x017F;teht ein Mann von edeln ern&#x017F;ten zu&#x0364;gen,</l><lb/>
              <l>Mit langem weißen bart und &#x017F;ilberweißem haar.</l><lb/>
              <l>Ein breiter gu&#x0364;rtel &#x017F;chließt des braunen rockes falten,</l><lb/>
              <l>Und an dem gu&#x0364;rtel ha&#x0364;ngt ein langer ro&#x017F;enkranz.</l><lb/>
              <l>Bey die&#x017F;em an&#x017F;ehn war's, an &#x017F;olchem orte, ganz</l><lb/>
              <l>Natu&#x0364;rlich, ihn &#x017F;ogleich fu&#x0364;r was er war zu halten.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="43">
              <head> <hi rendition="#c">43.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">D</hi>och Hu&#x0364;on &#x2014; &#x017F;chwach vor hunger, und er&#x017F;tarrt</l><lb/>
              <l>Vor mu&#x0364;digkeit, und nun, in die&#x017F;en wilden ho&#x0364;hen,</l><lb/>
              <l>Wo er &#x017F;o lang um&#x017F;on&#x017F;t auf Men&#x017F;chenanblik harrt,</l><lb/>
              <l>Und von der fel&#x017F;en &#x017F;tirn, die ringsum vor ihm &#x017F;tehen,</l><lb/>
              <l>Uralte tannen nur auf ihn herunter wehen,</l><lb/>
              <l>Auf einmal u&#x0364;berra&#x017F;cht von einem weißen bart,</l><lb/>
              <l>Der ihn &#x017F;o lieblich &#x017F;chrekt &#x2014; glaubt ein Ge&#x017F;icht zu &#x017F;ehen,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;inkt zur erde hin vor &#x017F;einer gegenwart.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="44">
              <head> <hi rendition="#c">44.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">D</hi>er Eremit, kaum weniger betroffen</l><lb/>
              <l>Als Hu&#x0364;on &#x017F;elb&#x017F;t, bebt einen &#x017F;chritt zuru&#x0364;k;</l><lb/>
              <l>Doch &#x017F;pricht er, &#x017F;chnell gefaßt: ha&#x017F;t du, wie mich dein blik</l><lb/>
              <l>Und an&#x017F;ehn glauben heißt, erlo&#x0364;&#x017F;ung noch zu hoffen</l><lb/>
              <l>Aus deiner pein, &#x017F;o &#x017F;prich, was kann ich fu&#x0364;r dich thun,</l><lb/>
              <l>Gequa&#x0364;lter gei&#x017F;t, wie kann ich fu&#x0364;r dich bu&#x0364;ßen,</l><lb/>
              <l>Um jenen port dir aufzu&#x017F;chließen</l><lb/>
              <l>Wo, unberu&#x0364;hrt von quaal, die Frommen ewig ruhn?</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">45. So</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0198] 42. Kaum hat er athemlos den lezten tritt erſtiegen So ſtellt ein Paradies ſich ſeinen augen dar: Und vor ihm ſteht ein Mann von edeln ernſten zuͤgen, Mit langem weißen bart und ſilberweißem haar. Ein breiter guͤrtel ſchließt des braunen rockes falten, Und an dem guͤrtel haͤngt ein langer roſenkranz. Bey dieſem anſehn war's, an ſolchem orte, ganz Natuͤrlich, ihn ſogleich fuͤr was er war zu halten. 43. Doch Huͤon — ſchwach vor hunger, und erſtarrt Vor muͤdigkeit, und nun, in dieſen wilden hoͤhen, Wo er ſo lang umſonſt auf Menſchenanblik harrt, Und von der felſen ſtirn, die ringsum vor ihm ſtehen, Uralte tannen nur auf ihn herunter wehen, Auf einmal uͤberraſcht von einem weißen bart, Der ihn ſo lieblich ſchrekt — glaubt ein Geſicht zu ſehen, Und ſinkt zur erde hin vor ſeiner gegenwart. 44. Der Eremit, kaum weniger betroffen Als Huͤon ſelbſt, bebt einen ſchritt zuruͤk; Doch ſpricht er, ſchnell gefaßt: haſt du, wie mich dein blik Und anſehn glauben heißt, erloͤſung noch zu hoffen Aus deiner pein, ſo ſprich, was kann ich fuͤr dich thun, Gequaͤlter geiſt, wie kann ich fuͤr dich buͤßen, Um jenen port dir aufzuſchließen Wo, unberuͤhrt von quaal, die Frommen ewig ruhn? 45. So

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/198
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/198>, abgerufen am 22.12.2024.