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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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45.
Sie fühlt's, es ist ihr Sohn! Mit thränen inniger lust
Gebadet, drükt sie ihn an wange, mund, und brust,
Und kann nicht satt sich an dem knaben sehen.
Auch scheint der knabe schon die Mutter zu verstehen.
Laßt ihr zum mindsten den genuß
Des süßen wahns! Er schaut aus seinen großen augen
Sie ja so sprechend an -- und scheint nicht jeden kuß
Sein kleiner mund dem ihren zu entsaugen?
46.
Sie hört den stillen ruf -- wie leise hört
Ein mutterherz! -- und folgt ihm unbelehrt.
Mit einer lust, die, wenn sie neiden könnten,
Die Engel, die auf sie herunter sahn,
Die Engel selbst beneidenswürdig nennten,
Legt sie an ihre brust den holden säugling an.
Sie leitet den Instinkt, und läßt nun an den freuden
Des zartsten mitgefühls ihr herz vollauf sich weiden.
47.
Indessen hat im ganzen Hain umher
Ihr Hüon sie gesucht, zwoo ängstlich lange stunden,
Und, da er nirgends sie gefunden,
Führt ihn zulezt sein irrer fuß hieher.
Er nähert sich der unzugangbarn Grotte;
Nichts hält ihn auf, er kommt -- o welch ein augenblik!
Und sieht das holde Weib, mit einem Liebesgotte
An ihrer brust, vertieft, verschlungen in ihr glük.
48. Ihr,
O 5
45.
Sie fuͤhlt's, es iſt ihr Sohn! Mit thraͤnen inniger luſt
Gebadet, druͤkt ſie ihn an wange, mund, und bruſt,
Und kann nicht ſatt ſich an dem knaben ſehen.
Auch ſcheint der knabe ſchon die Mutter zu verſtehen.
Laßt ihr zum mindſten den genuß
Des ſuͤßen wahns! Er ſchaut aus ſeinen großen augen
Sie ja ſo ſprechend an — und ſcheint nicht jeden kuß
Sein kleiner mund dem ihren zu entſaugen?
46.
Sie hoͤrt den ſtillen ruf — wie leiſe hoͤrt
Ein mutterherz! — und folgt ihm unbelehrt.
Mit einer luſt, die, wenn ſie neiden koͤnnten,
Die Engel, die auf ſie herunter ſahn,
Die Engel ſelbſt beneidenswuͤrdig nennten,
Legt ſie an ihre bruſt den holden ſaͤugling an.
Sie leitet den Inſtinkt, und laͤßt nun an den freuden
Des zartſten mitgefuͤhls ihr herz vollauf ſich weiden.
47.
Indeſſen hat im ganzen Hain umher
Ihr Huͤon ſie geſucht, zwoo aͤngſtlich lange ſtunden,
Und, da er nirgends ſie gefunden,
Fuͤhrt ihn zulezt ſein irrer fuß hieher.
Er naͤhert ſich der unzugangbarn Grotte;
Nichts haͤlt ihn auf, er kommt — o welch ein augenblik!
Und ſieht das holde Weib, mit einem Liebesgotte
An ihrer bruſt, vertieft, verſchlungen in ihr gluͤk.
48. Ihr,
O 5
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[0223] 45. Sie fuͤhlt's, es iſt ihr Sohn! Mit thraͤnen inniger luſt Gebadet, druͤkt ſie ihn an wange, mund, und bruſt, Und kann nicht ſatt ſich an dem knaben ſehen. Auch ſcheint der knabe ſchon die Mutter zu verſtehen. Laßt ihr zum mindſten den genuß Des ſuͤßen wahns! Er ſchaut aus ſeinen großen augen Sie ja ſo ſprechend an — und ſcheint nicht jeden kuß Sein kleiner mund dem ihren zu entſaugen? 46. Sie hoͤrt den ſtillen ruf — wie leiſe hoͤrt Ein mutterherz! — und folgt ihm unbelehrt. Mit einer luſt, die, wenn ſie neiden koͤnnten, Die Engel, die auf ſie herunter ſahn, Die Engel ſelbſt beneidenswuͤrdig nennten, Legt ſie an ihre bruſt den holden ſaͤugling an. Sie leitet den Inſtinkt, und laͤßt nun an den freuden Des zartſten mitgefuͤhls ihr herz vollauf ſich weiden. 47. Indeſſen hat im ganzen Hain umher Ihr Huͤon ſie geſucht, zwoo aͤngſtlich lange ſtunden, Und, da er nirgends ſie gefunden, Fuͤhrt ihn zulezt ſein irrer fuß hieher. Er naͤhert ſich der unzugangbarn Grotte; Nichts haͤlt ihn auf, er kommt — o welch ein augenblik! Und ſieht das holde Weib, mit einem Liebesgotte An ihrer bruſt, vertieft, verſchlungen in ihr gluͤk. 48. Ihr, O 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/223>, abgerufen am 16.05.2024.