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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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38.
Er schlummert nur, spricht Rezia, und legt
Die hand, so leicht daß sie ihn kaum berühret,
Auf seine hand; und da Sie kalt sie spüret
Und keine ader mehr sich regt,
Sinkt sie in stiller wehmut auf den blassen
Erstarrten leichnam hin; ein strom von thränen bricht
Aus ihrem aug und badet sein gesicht;
O Vater, ruft sie aus, so hast du uns verlassen?
39.
Sie rafft sich auf, und sinkt an Hüons brust.
Und beyde werfen nun sich bey der kalten Hülle
Der reinsten Seele hin, in ehrfurchtsvoller stille,
Und sättigen die schmerzlichsüße lust
Zu weinen; drücken oft, um endlich wegzugehen,
Auf seine hand der liebe lezten zoll,
Und bleiben immer, nie gefühlter regung voll,
Bey dem geliebten Bild als wie bezaubert stehen.
40.
Es war als sähen sie auf seinem angesicht
Die dämmerung von einem neuen leben,
Und wie von reinem Himmelslicht
Den Widerschein um seine stirne weben,
Der schon zum geist'gen leib den erdenstoff verfeint,
Und um den stillen mund, der eben
Vom lezten Segen noch sich sanft zu schließen scheint,
Ein unvergängliches kaum sichtbar's Lächeln schweben.
41. Ist
P 4
38.
Er ſchlummert nur, ſpricht Rezia, und legt
Die hand, ſo leicht daß ſie ihn kaum beruͤhret,
Auf ſeine hand; und da Sie kalt ſie ſpuͤret
Und keine ader mehr ſich regt,
Sinkt ſie in ſtiller wehmut auf den blaſſen
Erſtarrten leichnam hin; ein ſtrom von thraͤnen bricht
Aus ihrem aug und badet ſein geſicht;
O Vater, ruft ſie aus, ſo haſt du uns verlaſſen?
39.
Sie rafft ſich auf, und ſinkt an Huͤons bruſt.
Und beyde werfen nun ſich bey der kalten Huͤlle
Der reinſten Seele hin, in ehrfurchtsvoller ſtille,
Und ſaͤttigen die ſchmerzlichſuͤße luſt
Zu weinen; druͤcken oft, um endlich wegzugehen,
Auf ſeine hand der liebe lezten zoll,
Und bleiben immer, nie gefuͤhlter regung voll,
Bey dem geliebten Bild als wie bezaubert ſtehen.
40.
Es war als ſaͤhen ſie auf ſeinem angeſicht
Die daͤmmerung von einem neuen leben,
Und wie von reinem Himmelslicht
Den Widerſchein um ſeine ſtirne weben,
Der ſchon zum geiſt'gen leib den erdenſtoff verfeint,
Und um den ſtillen mund, der eben
Vom lezten Segen noch ſich ſanft zu ſchließen ſcheint,
Ein unvergaͤngliches kaum ſichtbar's Laͤcheln ſchweben.
41. Iſt
P 4
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[0237] 38. Er ſchlummert nur, ſpricht Rezia, und legt Die hand, ſo leicht daß ſie ihn kaum beruͤhret, Auf ſeine hand; und da Sie kalt ſie ſpuͤret Und keine ader mehr ſich regt, Sinkt ſie in ſtiller wehmut auf den blaſſen Erſtarrten leichnam hin; ein ſtrom von thraͤnen bricht Aus ihrem aug und badet ſein geſicht; O Vater, ruft ſie aus, ſo haſt du uns verlaſſen? 39. Sie rafft ſich auf, und ſinkt an Huͤons bruſt. Und beyde werfen nun ſich bey der kalten Huͤlle Der reinſten Seele hin, in ehrfurchtsvoller ſtille, Und ſaͤttigen die ſchmerzlichſuͤße luſt Zu weinen; druͤcken oft, um endlich wegzugehen, Auf ſeine hand der liebe lezten zoll, Und bleiben immer, nie gefuͤhlter regung voll, Bey dem geliebten Bild als wie bezaubert ſtehen. 40. Es war als ſaͤhen ſie auf ſeinem angeſicht Die daͤmmerung von einem neuen leben, Und wie von reinem Himmelslicht Den Widerſchein um ſeine ſtirne weben, Der ſchon zum geiſt'gen leib den erdenſtoff verfeint, Und um den ſtillen mund, der eben Vom lezten Segen noch ſich ſanft zu ſchließen ſcheint, Ein unvergaͤngliches kaum ſichtbar's Laͤcheln ſchweben. 41. Iſt P 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/237>, abgerufen am 16.05.2024.