Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
53.
Ihr schwanet nichts von größerer gefahr,
Ihr einziger gedank ist ihres sohnes leben:
Und plözlich, da sie kaum um einen hügel, neben
Dem wasserfall, herumgekommen war,
Sieht sie bestürzt, von einer rohen schaar
Schwarzgelber Männer sich umgeben,
Und hinter einem hohen riff
Erblikt sie in der Bucht ein ankernd ruderschiff.
54.
Sie hatten kurz zuvor, um wasser einzunehmen,
Vor anker hier gelegt, und waren noch damit
Beschäftigt, als, mit schnellgehemmtem schritt,
Auf einmal eine Frau vor ihre augen tritt,
Gemacht beym ersten blik die Schönsten zu beschämen.
Erstaunen schien sie alle schier zu lähmen,
An diesem öden ort, den sonst der schiffer fleucht,
Ein junges weib zu sehn, die einer Göttin gleicht.
55.
Der Schönheit anblik macht sonst rohe seelen milder,
Und Tyger schmiegen sich zu ihren füßen hin:
Doch Diese fühlen nichts. Ihr stumpfer räubersinn
Berechnet sich den Werth der schönsten Frauenbilder
(Von Marmor oder Fleisch, gleichviel!) mit kaltem blut
Blos nach dem marktpreis, just wie anders kaufmannsgut.
Hier, ruft der Hauptmann, sind zehntausend Sultaninen,
Mit Einem griff, so gut wie hundert zu verdienen.
56. Auf,
53.
Ihr ſchwanet nichts von groͤßerer gefahr,
Ihr einziger gedank iſt ihres ſohnes leben:
Und ploͤzlich, da ſie kaum um einen huͤgel, neben
Dem waſſerfall, herumgekommen war,
Sieht ſie beſtuͤrzt, von einer rohen ſchaar
Schwarzgelber Maͤnner ſich umgeben,
Und hinter einem hohen riff
Erblikt ſie in der Bucht ein ankernd ruderſchiff.
54.
Sie hatten kurz zuvor, um waſſer einzunehmen,
Vor anker hier gelegt, und waren noch damit
Beſchaͤftigt, als, mit ſchnellgehemmtem ſchritt,
Auf einmal eine Frau vor ihre augen tritt,
Gemacht beym erſten blik die Schoͤnſten zu beſchaͤmen.
Erſtaunen ſchien ſie alle ſchier zu laͤhmen,
An dieſem oͤden ort, den ſonſt der ſchiffer fleucht,
Ein junges weib zu ſehn, die einer Goͤttin gleicht.
55.
Der Schoͤnheit anblik macht ſonſt rohe ſeelen milder,
Und Tyger ſchmiegen ſich zu ihren fuͤßen hin:
Doch Dieſe fuͤhlen nichts. Ihr ſtumpfer raͤuberſinn
Berechnet ſich den Werth der ſchoͤnſten Frauenbilder
(Von Marmor oder Fleiſch, gleichviel!) mit kaltem blut
Blos nach dem marktpreis, juſt wie anders kaufmannsgut.
Hier, ruft der Hauptmann, ſind zehntauſend Sultaninen,
Mit Einem griff, ſo gut wie hundert zu verdienen.
56. Auf,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0242"/>
            <lg n="53">
              <head> <hi rendition="#c">53.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">I</hi>hr &#x017F;chwanet nichts von gro&#x0364;ßerer gefahr,</l><lb/>
              <l>Ihr einziger gedank i&#x017F;t ihres &#x017F;ohnes leben:</l><lb/>
              <l>Und plo&#x0364;zlich, da &#x017F;ie kaum um einen hu&#x0364;gel, neben</l><lb/>
              <l>Dem wa&#x017F;&#x017F;erfall, herumgekommen war,</l><lb/>
              <l>Sieht &#x017F;ie be&#x017F;tu&#x0364;rzt, von einer rohen &#x017F;chaar</l><lb/>
              <l>Schwarzgelber Ma&#x0364;nner &#x017F;ich umgeben,</l><lb/>
              <l>Und hinter einem hohen riff</l><lb/>
              <l>Erblikt &#x017F;ie in der Bucht ein ankernd ruder&#x017F;chiff.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="54">
              <head> <hi rendition="#c">54.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">S</hi>ie hatten kurz zuvor, um wa&#x017F;&#x017F;er einzunehmen,</l><lb/>
              <l>Vor anker hier gelegt, und waren noch damit</l><lb/>
              <l>Be&#x017F;cha&#x0364;ftigt, als, mit &#x017F;chnellgehemmtem &#x017F;chritt,</l><lb/>
              <l>Auf einmal eine Frau vor ihre augen tritt,</l><lb/>
              <l>Gemacht beym er&#x017F;ten blik die Scho&#x0364;n&#x017F;ten zu be&#x017F;cha&#x0364;men.</l><lb/>
              <l>Er&#x017F;taunen &#x017F;chien &#x017F;ie alle &#x017F;chier zu la&#x0364;hmen,</l><lb/>
              <l>An die&#x017F;em o&#x0364;den ort, den &#x017F;on&#x017F;t der &#x017F;chiffer fleucht,</l><lb/>
              <l>Ein junges weib zu &#x017F;ehn, die einer Go&#x0364;ttin gleicht.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="55">
              <head> <hi rendition="#c">55.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">D</hi>er Scho&#x0364;nheit anblik macht &#x017F;on&#x017F;t rohe &#x017F;eelen milder,</l><lb/>
              <l>Und Tyger &#x017F;chmiegen &#x017F;ich zu ihren fu&#x0364;ßen hin:</l><lb/>
              <l>Doch Die&#x017F;e fu&#x0364;hlen nichts. Ihr &#x017F;tumpfer ra&#x0364;uber&#x017F;inn</l><lb/>
              <l>Berechnet &#x017F;ich den Werth der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Frauenbilder</l><lb/>
              <l>(Von Marmor oder Flei&#x017F;ch, gleichviel!) mit kaltem blut</l><lb/>
              <l>Blos nach dem marktpreis, ju&#x017F;t wie anders kaufmannsgut.</l><lb/>
              <l>Hier, ruft der Hauptmann, &#x017F;ind zehntau&#x017F;end Sultaninen,</l><lb/>
              <l>Mit Einem griff, &#x017F;o gut wie hundert zu verdienen.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">56. Auf,</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0242] 53. Ihr ſchwanet nichts von groͤßerer gefahr, Ihr einziger gedank iſt ihres ſohnes leben: Und ploͤzlich, da ſie kaum um einen huͤgel, neben Dem waſſerfall, herumgekommen war, Sieht ſie beſtuͤrzt, von einer rohen ſchaar Schwarzgelber Maͤnner ſich umgeben, Und hinter einem hohen riff Erblikt ſie in der Bucht ein ankernd ruderſchiff. 54. Sie hatten kurz zuvor, um waſſer einzunehmen, Vor anker hier gelegt, und waren noch damit Beſchaͤftigt, als, mit ſchnellgehemmtem ſchritt, Auf einmal eine Frau vor ihre augen tritt, Gemacht beym erſten blik die Schoͤnſten zu beſchaͤmen. Erſtaunen ſchien ſie alle ſchier zu laͤhmen, An dieſem oͤden ort, den ſonſt der ſchiffer fleucht, Ein junges weib zu ſehn, die einer Goͤttin gleicht. 55. Der Schoͤnheit anblik macht ſonſt rohe ſeelen milder, Und Tyger ſchmiegen ſich zu ihren fuͤßen hin: Doch Dieſe fuͤhlen nichts. Ihr ſtumpfer raͤuberſinn Berechnet ſich den Werth der ſchoͤnſten Frauenbilder (Von Marmor oder Fleiſch, gleichviel!) mit kaltem blut Blos nach dem marktpreis, juſt wie anders kaufmannsgut. Hier, ruft der Hauptmann, ſind zehntauſend Sultaninen, Mit Einem griff, ſo gut wie hundert zu verdienen. 56. Auf,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/242
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/242>, abgerufen am 16.05.2024.