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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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56.
Auf, Kinder, greifet zu! So ein gesicht wie dies
Gilt uns zu Tunis mehr als zwanzig reiche Ballen:
Der König, wie ihr wißt, liebt solche nachtigallen;
Und dieser Wilden hier gleicht von den Schönen allen
In seinem Harem nichts: Ihr reicht Almansaris,
Die Königin, so schön sie ist, gewiß
Das wasser kaum. Wie wird der Sultan brennen!
Der zufall hätt' uns traun! nicht besser führen können.
57.
Indeß der Hauptmann dies zu seinem volke sprach,
Steht Rezia, und denkt zween augenblicke nach
Was hier zu wählen ist. "Sind diese leute feinde,
So hilft die flucht mir nichts, da sie so nahe sind:
Vielleicht daß edelmut und bitten sie gewinnt.
Ich geh, und rede sie, mit zuversicht, als freunde,
Als retter an, die uns der Himmel zugesendet.
Vielleicht ists unser glük, daß sie hier angeländet."
58.
Dies denkend, geht, mit unschuldsvoller ruh
Im ofnen blik, und mit getrosten schritten,
Das edle schöne Weib auf die Korsaren zu:
Allein sie bleiben taub bey ihren sanften bitten.
Die sprache, die zu allen herzen spricht,
Rührt ihre eisernen entmenschten seelen nicht.
Der Hauptmann winkt; sie wird umringt, ergriffen,
Und alles läuft und rennt die Beute einzuschiffen.
59. Auf
56.
Auf, Kinder, greifet zu! So ein geſicht wie dies
Gilt uns zu Tunis mehr als zwanzig reiche Ballen:
Der Koͤnig, wie ihr wißt, liebt ſolche nachtigallen;
Und dieſer Wilden hier gleicht von den Schoͤnen allen
In ſeinem Harem nichts: Ihr reicht Almanſaris,
Die Koͤnigin, ſo ſchoͤn ſie iſt, gewiß
Das waſſer kaum. Wie wird der Sultan brennen!
Der zufall haͤtt' uns traun! nicht beſſer fuͤhren koͤnnen.
57.
Indeß der Hauptmann dies zu ſeinem volke ſprach,
Steht Rezia, und denkt zween augenblicke nach
Was hier zu waͤhlen iſt. „Sind dieſe leute feinde,
So hilft die flucht mir nichts, da ſie ſo nahe ſind:
Vielleicht daß edelmut und bitten ſie gewinnt.
Ich geh, und rede ſie, mit zuverſicht, als freunde,
Als retter an, die uns der Himmel zugeſendet.
Vielleicht iſts unſer gluͤk, daß ſie hier angelaͤndet.“
58.
Dies denkend, geht, mit unſchuldsvoller ruh
Im ofnen blik, und mit getroſten ſchritten,
Das edle ſchoͤne Weib auf die Korſaren zu:
Allein ſie bleiben taub bey ihren ſanften bitten.
Die ſprache, die zu allen herzen ſpricht,
Ruͤhrt ihre eiſernen entmenſchten ſeelen nicht.
Der Hauptmann winkt; ſie wird umringt, ergriffen,
Und alles laͤuft und rennt die Beute einzuſchiffen.
59. Auf
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[0243] 56. Auf, Kinder, greifet zu! So ein geſicht wie dies Gilt uns zu Tunis mehr als zwanzig reiche Ballen: Der Koͤnig, wie ihr wißt, liebt ſolche nachtigallen; Und dieſer Wilden hier gleicht von den Schoͤnen allen In ſeinem Harem nichts: Ihr reicht Almanſaris, Die Koͤnigin, ſo ſchoͤn ſie iſt, gewiß Das waſſer kaum. Wie wird der Sultan brennen! Der zufall haͤtt' uns traun! nicht beſſer fuͤhren koͤnnen. 57. Indeß der Hauptmann dies zu ſeinem volke ſprach, Steht Rezia, und denkt zween augenblicke nach Was hier zu waͤhlen iſt. „Sind dieſe leute feinde, So hilft die flucht mir nichts, da ſie ſo nahe ſind: Vielleicht daß edelmut und bitten ſie gewinnt. Ich geh, und rede ſie, mit zuverſicht, als freunde, Als retter an, die uns der Himmel zugeſendet. Vielleicht iſts unſer gluͤk, daß ſie hier angelaͤndet.“ 58. Dies denkend, geht, mit unſchuldsvoller ruh Im ofnen blik, und mit getroſten ſchritten, Das edle ſchoͤne Weib auf die Korſaren zu: Allein ſie bleiben taub bey ihren ſanften bitten. Die ſprache, die zu allen herzen ſpricht, Ruͤhrt ihre eiſernen entmenſchten ſeelen nicht. Der Hauptmann winkt; ſie wird umringt, ergriffen, Und alles laͤuft und rennt die Beute einzuſchiffen. 59. Auf

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/243>, abgerufen am 16.05.2024.