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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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36.
Auf einmal ist der himmel wolkenleer,
Und alles hell und mild und trocken wie vorher.
Schön, wie im morgenroth ein neugebohrner engel,
Steht er, gestüzt auf einen lilienstängel,
Und um die schultern hängt sein elfenbeinern horn.
So schön er ist, doch kömmt ein unbekanntes grauen
Sie alle an; denn ernst und stiller zorn
Wölkt sich um seine augenbrauen.
37.
Er setzt das horn an seine lippen an
Und bläßt den lieblichsten ton. Straks übermannt den Alten
Ein schwindelgeist; er kann sich tanzens nicht enthalten,
Packt eine nonne ohne zahn,
Die vor begierde stirbt ein tänzchen mit zu machen,
Und hüpft und springt, als wie ein junger bock
So rasch mit ihr herum, daß schleyertuch und rock
Weit in die lüfte wehn, zu allgemeinem lachen.
38.
Bald faßt die gleiche wut den ganzen klosterstand;
Ein jeder Lollhart nimmt sein nönnchen bey der hand
Und ein ballet beginnt, wie man sobald nicht wieder
Eins sehen wird. Die schwestern und die brüder
Vergessen aller zucht und regel ganz und gar.
Es ist ein wahrer tanz von faunen und mänaden:
Hier flieht ein weyhel weg, dort winken runde waden,
Auch wohl noch mehr, und keine wirds gewahr.
39. Der
36.
Auf einmal iſt der himmel wolkenleer,
Und alles hell und mild und trocken wie vorher.
Schoͤn, wie im morgenroth ein neugebohrner engel,
Steht er, geſtuͤzt auf einen lilienſtaͤngel,
Und um die ſchultern haͤngt ſein elfenbeinern horn.
So ſchoͤn er iſt, doch koͤmmt ein unbekanntes grauen
Sie alle an; denn ernſt und ſtiller zorn
Woͤlkt ſich um ſeine augenbrauen.
37.
Er ſetzt das horn an ſeine lippen an
Und blaͤßt den lieblichſten ton. Straks uͤbermannt den Alten
Ein ſchwindelgeiſt; er kann ſich tanzens nicht enthalten,
Packt eine nonne ohne zahn,
Die vor begierde ſtirbt ein taͤnzchen mit zu machen,
Und huͤpft und ſpringt, als wie ein junger bock
So raſch mit ihr herum, daß ſchleyertuch und rock
Weit in die luͤfte wehn, zu allgemeinem lachen.
38.
Bald faßt die gleiche wut den ganzen kloſterſtand;
Ein jeder Lollhart nimmt ſein noͤnnchen bey der hand
Und ein ballet beginnt, wie man ſobald nicht wieder
Eins ſehen wird. Die ſchweſtern und die bruͤder
Vergeſſen aller zucht und regel ganz und gar.
Es iſt ein wahrer tanz von faunen und maͤnaden:
Hier flieht ein weyhel weg, dort winken runde waden,
Auch wohl noch mehr, und keine wirds gewahr.
39. Der
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[0046] 36. Auf einmal iſt der himmel wolkenleer, Und alles hell und mild und trocken wie vorher. Schoͤn, wie im morgenroth ein neugebohrner engel, Steht er, geſtuͤzt auf einen lilienſtaͤngel, Und um die ſchultern haͤngt ſein elfenbeinern horn. So ſchoͤn er iſt, doch koͤmmt ein unbekanntes grauen Sie alle an; denn ernſt und ſtiller zorn Woͤlkt ſich um ſeine augenbrauen. 37. Er ſetzt das horn an ſeine lippen an Und blaͤßt den lieblichſten ton. Straks uͤbermannt den Alten Ein ſchwindelgeiſt; er kann ſich tanzens nicht enthalten, Packt eine nonne ohne zahn, Die vor begierde ſtirbt ein taͤnzchen mit zu machen, Und huͤpft und ſpringt, als wie ein junger bock So raſch mit ihr herum, daß ſchleyertuch und rock Weit in die luͤfte wehn, zu allgemeinem lachen. 38. Bald faßt die gleiche wut den ganzen kloſterſtand; Ein jeder Lollhart nimmt ſein noͤnnchen bey der hand Und ein ballet beginnt, wie man ſobald nicht wieder Eins ſehen wird. Die ſchweſtern und die bruͤder Vergeſſen aller zucht und regel ganz und gar. Es iſt ein wahrer tanz von faunen und maͤnaden: Hier flieht ein weyhel weg, dort winken runde waden, Auch wohl noch mehr, und keine wirds gewahr. 39. Der

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/46>, abgerufen am 29.04.2024.