und doch lügt man sich die Haut voll. Das Herz kann man sich nicht belügen. Die Zunge freilich ist ein furchtsames Glied, dem Einen ist sie der Klöppel der ehernen Unverschämtheit, dem Andern das Lämmerschwänzchen demüthiger Erge¬ benheit. Auch die Wange ist kein treuer Spiegel der Seele mehr, sie wird eher roth oder blaß, wenn die Wahrheit, als wenn die Lüge zum Vor¬ schein kommt. Aber das Herz kann man sich nicht belügen, schon das Auge nicht; täglich, stündlich können wir uns unsere moralischen, reli¬ giösen, politischen Lügen aus dem Auge herausle¬ sen. Das ist der Fluch der Zeit, der auf einer Uebergangsepoche, wie der unsrigen ruht, das ist der Schmerz, der die edelsten Geister durchdringt, der in so vielen Stunden die Hoffnung übertäubt und die Unruhe, die Zerrissenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeister der Menschheit, wenn sie nächtlich mit neuen Geburten schwanger geht.
Dennoch sollte die Hoffnung größer sein, als die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht hemmt, die Hoffnung beflügelt, weil die Furcht Zweifel erregt, die Hoffnung sie zerstreut, weil die Furcht trennt und zerrüttet, die Hoffnung einigt und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen denselben lähmt. Vergebens aber schminkt sich
und doch luͤgt man ſich die Haut voll. Das Herz kann man ſich nicht beluͤgen. Die Zunge freilich iſt ein furchtſames Glied, dem Einen iſt ſie der Kloͤppel der ehernen Unverſchaͤmtheit, dem Andern das Laͤmmerſchwaͤnzchen demuͤthiger Erge¬ benheit. Auch die Wange iſt kein treuer Spiegel der Seele mehr, ſie wird eher roth oder blaß, wenn die Wahrheit, als wenn die Luͤge zum Vor¬ ſchein kommt. Aber das Herz kann man ſich nicht beluͤgen, ſchon das Auge nicht; taͤglich, ſtuͤndlich koͤnnen wir uns unſere moraliſchen, reli¬ gioͤſen, politiſchen Luͤgen aus dem Auge herausle¬ ſen. Das iſt der Fluch der Zeit, der auf einer Uebergangsepoche, wie der unſrigen ruht, das iſt der Schmerz, der die edelſten Geiſter durchdringt, der in ſo vielen Stunden die Hoffnung uͤbertaͤubt und die Unruhe, die Zerriſſenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeiſter der Menſchheit, wenn ſie naͤchtlich mit neuen Geburten ſchwanger geht.
Dennoch ſollte die Hoffnung groͤßer ſein, als die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht hemmt, die Hoffnung befluͤgelt, weil die Furcht Zweifel erregt, die Hoffnung ſie zerſtreut, weil die Furcht trennt und zerruͤttet, die Hoffnung einigt und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen denſelben laͤhmt. Vergebens aber ſchminkt ſich
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und doch luͤgt man ſich die Haut voll. Das
Herz kann man ſich nicht beluͤgen. Die Zunge
freilich iſt ein furchtſames Glied, dem Einen iſt
ſie der Kloͤppel der ehernen Unverſchaͤmtheit, dem
Andern das Laͤmmerſchwaͤnzchen demuͤthiger Erge¬
benheit. Auch die Wange iſt kein treuer Spiegel
der Seele mehr, ſie wird eher roth oder blaß,
wenn die Wahrheit, als wenn die Luͤge zum Vor¬
ſchein kommt. Aber das Herz kann man ſich
nicht beluͤgen, ſchon das Auge nicht; taͤglich,
ſtuͤndlich koͤnnen wir uns unſere moraliſchen, reli¬
gioͤſen, politiſchen Luͤgen aus dem Auge herausle¬
ſen. Das iſt der Fluch der Zeit, der auf einer
Uebergangsepoche, wie der unſrigen ruht, das iſt
der Schmerz, der die edelſten Geiſter durchdringt,
der in ſo vielen Stunden die Hoffnung uͤbertaͤubt
und die Unruhe, die Zerriſſenheit, den Zweifel
erzeugt, Plagegeiſter der Menſchheit, wenn ſie
naͤchtlich mit neuen Geburten ſchwanger geht.
Dennoch ſollte die Hoffnung groͤßer ſein, als
die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht
hemmt, die Hoffnung befluͤgelt, weil die Furcht
Zweifel erregt, die Hoffnung ſie zerſtreut, weil die
Furcht trennt und zerruͤttet, die Hoffnung einigt
und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht
den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen
denſelben laͤhmt. Vergebens aber ſchminkt ſich
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/130>, abgerufen am 21.11.2024.
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