Namen den ganzen heutigen Umfang ästhetischer Gesetze und Urtheile begreifen, allein theils ist diese Art wissenschaftlicher Vollständigkeit überhaupt mehr eine Erscheinung der neueren Zeiten, wor¬ auf es das Alterthum nicht ablegte, theils besitzen wir in den Gedichten, Philosophemen und Kunst¬ werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigste Aesthetik jener Zeiten und Völker, um so lebendiger, da sie aus dem Leben selbst ge¬ schöpft ist.
Von Geschmack und Ungeschmack kann auf diesem Standpunkt nicht die Rede sein. Die ab¬ surdesten Extravaganzen der indischen Phantasie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬ fällt, und sich in dem wulstigen Haupthaar eines Gottes verstrickt, ein Gott mit Elephantenrüssel u. dergl. sind für die Anschauungsweise des indi¬ schen Aesthetikers eben so mustergültige Bilder und Vorstellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorstellung aus dem griechischen und christkatholi¬ schen Anschauungskreise, wie z. B. die Venus Anadiomene, die sich aus dem Schaum der Wel¬ len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Christi über den Wassern des Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬ schmack, oder man hat ihn nicht, das ist Alles, was sich sagen läßt; denn dies heißt dann weiter
Namen den ganzen heutigen Umfang aͤſthetiſcher Geſetze und Urtheile begreifen, allein theils iſt dieſe Art wiſſenſchaftlicher Vollſtaͤndigkeit uͤberhaupt mehr eine Erſcheinung der neueren Zeiten, wor¬ auf es das Alterthum nicht ablegte, theils beſitzen wir in den Gedichten, Philoſophemen und Kunſt¬ werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigſte Aeſthetik jener Zeiten und Voͤlker, um ſo lebendiger, da ſie aus dem Leben ſelbſt ge¬ ſchoͤpft iſt.
Von Geſchmack und Ungeſchmack kann auf dieſem Standpunkt nicht die Rede ſein. Die ab¬ ſurdeſten Extravaganzen der indiſchen Phantaſie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬ faͤllt, und ſich in dem wulſtigen Haupthaar eines Gottes verſtrickt, ein Gott mit Elephantenruͤſſel u. dergl. ſind fuͤr die Anſchauungsweiſe des indi¬ ſchen Aeſthetikers eben ſo muſterguͤltige Bilder und Vorſtellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorſtellung aus dem griechiſchen und chriſtkatholi¬ ſchen Anſchauungskreiſe, wie z. B. die Venus Anadiomene, die ſich aus dem Schaum der Wel¬ len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Chriſti uͤber den Waſſern des Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬ ſchmack, oder man hat ihn nicht, das iſt Alles, was ſich ſagen laͤßt; denn dies heißt dann weiter
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Namen den ganzen heutigen Umfang aͤſthetiſcher
Geſetze und Urtheile begreifen, allein theils iſt
dieſe Art wiſſenſchaftlicher Vollſtaͤndigkeit uͤberhaupt
mehr eine Erſcheinung der neueren Zeiten, wor¬
auf es das Alterthum nicht ablegte, theils beſitzen
wir in den Gedichten, Philoſophemen und Kunſt¬
werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters
die lebendigſte Aeſthetik jener Zeiten und Voͤlker,
um ſo lebendiger, da ſie aus dem Leben ſelbſt ge¬
ſchoͤpft iſt.
Von Geſchmack und Ungeſchmack kann auf
dieſem Standpunkt nicht die Rede ſein. Die ab¬
ſurdeſten Extravaganzen der indiſchen Phantaſie,
ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬
faͤllt, und ſich in dem wulſtigen Haupthaar eines
Gottes verſtrickt, ein Gott mit Elephantenruͤſſel
u. dergl. ſind fuͤr die Anſchauungsweiſe des indi¬
ſchen Aeſthetikers eben ſo muſterguͤltige Bilder und
Vorſtellungen, wie nur irgend ein Bild und eine
Vorſtellung aus dem griechiſchen und chriſtkatholi¬
ſchen Anſchauungskreiſe, wie z. B. die Venus
Anadiomene, die ſich aus dem Schaum der Wel¬
len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei
der Taufhandlung Chriſti uͤber den Waſſern des
Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬
ſchmack, oder man hat ihn nicht, das iſt Alles,
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/142>, abgerufen am 24.11.2024.
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