Indem ich dies Geständniß, das ich schon in der ersten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬ dem mir alles Bisherige zur Erläuterung und Ar¬ gumentation desselben gedient hat, schreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Aesthe¬ tik gegenwärtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬ schichtliche zu sein, durchaus nicht entsprechen kann, von Aesthetik noch bleibt.
Zunächst wird Jeder gleich sehen, daß uns hier ein reicher Spielraum für individuelle An¬ sichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aestheti¬ ker sich in den Fall versetzt findet, mit hinlängli¬ cher Willkühr den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schönheiten belie¬ big Dies und Jenes auszuwählen, bald mehr die klassischen, bald mehr die romantischen zu begün¬ stigen, bald mehr die Kunst, bald mehr die Poesie in sein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬ torischen Schönheiten das Uebergewicht zu ver¬ statten.
Aus diesem Wirrwarr ist wirklich das, was wir heutiges Tags Aesthetik nennen, entsprungen. Man ist ausgegangen, sagt Herbart, von der Thatsache, daß über Sachen des Geschmacks ver¬ schieden geurtheilt wird; man wünscht aber zu einer sichern Entscheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Aesthetik als
Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬ dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬ gumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthe¬ tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬ ſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann, von Aeſthetik noch bleibt.
Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬ ſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſtheti¬ ker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤngli¬ cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬ big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤn¬ ſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬ toriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬ ſtatten.
Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen. Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks ver¬ ſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0150"n="136"/><p>Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon<lb/>
in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬<lb/>
dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬<lb/>
gumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur<lb/>
Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthe¬<lb/>
tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬<lb/>ſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann,<lb/>
von Aeſthetik noch bleibt.</p><lb/><p>Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns<lb/>
hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬<lb/>ſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſtheti¬<lb/>
ker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤngli¬<lb/>
cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und<lb/>
aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬<lb/>
big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die<lb/>
klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤn¬<lb/>ſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie<lb/>
in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬<lb/>
toriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬<lb/>ſtatten.</p><lb/><p>Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was<lb/>
wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen.<lb/>
Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der<lb/>
Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks ver¬<lb/>ſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu<lb/>
einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun<lb/>
betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als<lb/></p></div></body></text></TEI>
[136/0150]
Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon
in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬
dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬
gumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur
Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthe¬
tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬
ſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann,
von Aeſthetik noch bleibt.
Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns
hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬
ſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſtheti¬
ker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤngli¬
cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und
aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬
big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die
klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤn¬
ſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie
in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬
toriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬
ſtatten.
Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was
wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen.
Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der
Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks ver¬
ſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu
einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun
betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/150>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.