dem abstrakten Begriff des Christenthums abstra¬ hirten heutigen Moralen an wissenschaftlichem Werth übertreffen würde; würde man zeigen, wie die ursprüngliche menschliche Kraft jenes Zeitalters sich durchdrang von den geschichtlich gegebenen Elementen des Christenthums und wie diese Mi¬ schung sich in den eigenthümlichsten Formen kry¬ stallisirte und das Größte wie das Kleinste in den sittlichen Aeußerungen so und nicht anders gestal¬ tete, wie es die Geschichte lehrt. Aber nun, nach¬ dem sich die Grundbestrebungen der Zeit außer dem früheren, innigern Kontakt mit dem christli¬ chen sahen, eine Art formeller philosophischer christ¬ licher Moral der geschichtlich christlichen substituiren und nach willkührlichen Abstraktionen aus dieser das Gewissen der neuen Zeit regeln und beschwe¬ ren zu wollen, ist ein nichtiges Unternehmen, das auf die Gestaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬ ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles, sich eine Zeit lang so hinschleppen wird, bis etwas Besseres dafür an die Stelle tritt. Was sollen wir mit solcher Moral anfangen, wozu sollte sie uns nützlich sein? Entweder sie geht unsern Weg und dann ist sie nicht das, wofür sie sich ausgibt, dann muß sie sich bescheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder sie geht ihn nicht und dann predigt sie tauben Ohren. Sie gibt
dem abſtrakten Begriff des Chriſtenthums abſtra¬ hirten heutigen Moralen an wiſſenſchaftlichem Werth uͤbertreffen wuͤrde; wuͤrde man zeigen, wie die urſpruͤngliche menſchliche Kraft jenes Zeitalters ſich durchdrang von den geſchichtlich gegebenen Elementen des Chriſtenthums und wie dieſe Mi¬ ſchung ſich in den eigenthuͤmlichſten Formen kry¬ ſtalliſirte und das Groͤßte wie das Kleinſte in den ſittlichen Aeußerungen ſo und nicht anders geſtal¬ tete, wie es die Geſchichte lehrt. Aber nun, nach¬ dem ſich die Grundbeſtrebungen der Zeit außer dem fruͤheren, innigern Kontakt mit dem chriſtli¬ chen ſahen, eine Art formeller philoſophiſcher chriſt¬ licher Moral der geſchichtlich chriſtlichen ſubſtituiren und nach willkuͤhrlichen Abſtraktionen aus dieſer das Gewiſſen der neuen Zeit regeln und beſchwe¬ ren zu wollen, iſt ein nichtiges Unternehmen, das auf die Geſtaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬ ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles, ſich eine Zeit lang ſo hinſchleppen wird, bis etwas Beſſeres dafuͤr an die Stelle tritt. Was ſollen wir mit ſolcher Moral anfangen, wozu ſollte ſie uns nuͤtzlich ſein? Entweder ſie geht unſern Weg und dann iſt ſie nicht das, wofuͤr ſie ſich ausgibt, dann muß ſie ſich beſcheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder ſie geht ihn nicht und dann predigt ſie tauben Ohren. Sie gibt
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dem abſtrakten Begriff des Chriſtenthums abſtra¬
hirten heutigen Moralen an wiſſenſchaftlichem
Werth uͤbertreffen wuͤrde; wuͤrde man zeigen, wie
die urſpruͤngliche menſchliche Kraft jenes Zeitalters
ſich durchdrang von den geſchichtlich gegebenen
Elementen des Chriſtenthums und wie dieſe Mi¬
ſchung ſich in den eigenthuͤmlichſten Formen kry¬
ſtalliſirte und das Groͤßte wie das Kleinſte in den
ſittlichen Aeußerungen ſo und nicht anders geſtal¬
tete, wie es die Geſchichte lehrt. Aber nun, nach¬
dem ſich die Grundbeſtrebungen der Zeit außer
dem fruͤheren, innigern Kontakt mit dem chriſtli¬
chen ſahen, eine Art formeller philoſophiſcher chriſt¬
licher Moral der geſchichtlich chriſtlichen ſubſtituiren
und nach willkuͤhrlichen Abſtraktionen aus dieſer
das Gewiſſen der neuen Zeit regeln und beſchwe¬
ren zu wollen, iſt ein nichtiges Unternehmen, das
auf die Geſtaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬
ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles,
ſich eine Zeit lang ſo hinſchleppen wird, bis etwas
Beſſeres dafuͤr an die Stelle tritt. Was ſollen
wir mit ſolcher Moral anfangen, wozu ſollte ſie
uns nuͤtzlich ſein? Entweder ſie geht unſern Weg
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/181>, abgerufen am 21.11.2024.
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