dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder unvollkommner gegliedert und durchgebildet sehen und so stellen wir z. B. im Animalischen die Ge¬ stalt des Menschen, als die individuellste, kunst¬ reichste, verwickeltste Organisation, als das Mei¬ sterwerk der Schöpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geschlecht der Würmer, dem unentwickel¬ ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenüber, den ersten Anfang der schönsten Vollendung des animalischen Lebens auf der Erde.
Ich sage, als die schönste Vollendung. Denn im selben Grade, wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Thieres sich deutlicher entwickeln sehen, im selbigen schreiben wir ihm auch eine größere Schönheit zu; und umgekehrt, je schöner wir die Bildungen der Natur finden, desto voll¬ kommner wird sich bei näherer Untersuchung ihre Charakteristik ausweisen. Wem z. B. gefällt nicht das bloße grüne Blatt eines Rosenstrauchs, einer Weinrebe vor hundert andern Blättern, wenn ihm auch die Ursache dieses Gefallens nicht klar ist, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch diese entdecken, und die feineren Fasern, die zarteren Verzweigungen, den regelmäßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafür halten. Wem gefällt nicht die Gestalt eines Pferdes bes¬ ser, als die Gestalt einer Kuh und wer sieht nicht
dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder unvollkommner gegliedert und durchgebildet ſehen und ſo ſtellen wir z. B. im Animaliſchen die Ge¬ ſtalt des Menſchen, als die individuellſte, kunſt¬ reichſte, verwickeltſte Organiſation, als das Mei¬ ſterwerk der Schoͤpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geſchlecht der Wuͤrmer, dem unentwickel¬ ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenuͤber, den erſten Anfang der ſchoͤnſten Vollendung des animaliſchen Lebens auf der Erde.
Ich ſage, als die ſchoͤnſte Vollendung. Denn im ſelben Grade, wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Thieres ſich deutlicher entwickeln ſehen, im ſelbigen ſchreiben wir ihm auch eine groͤßere Schoͤnheit zu; und umgekehrt, je ſchoͤner wir die Bildungen der Natur finden, deſto voll¬ kommner wird ſich bei naͤherer Unterſuchung ihre Charakteriſtik ausweiſen. Wem z. B. gefaͤllt nicht das bloße gruͤne Blatt eines Roſenſtrauchs, einer Weinrebe vor hundert andern Blaͤttern, wenn ihm auch die Urſache dieſes Gefallens nicht klar iſt, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch dieſe entdecken, und die feineren Faſern, die zarteren Verzweigungen, den regelmaͤßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafuͤr halten. Wem gefaͤllt nicht die Geſtalt eines Pferdes beſ¬ ſer, als die Geſtalt einer Kuh und wer ſieht nicht
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dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder
unvollkommner gegliedert und durchgebildet ſehen
und ſo ſtellen wir z. B. im Animaliſchen die Ge¬
ſtalt des Menſchen, als die individuellſte, kunſt¬
reichſte, verwickeltſte Organiſation, als das Mei¬
ſterwerk der Schoͤpfung, dem Mollusk und dem
ganzen Geſchlecht der Wuͤrmer, dem unentwickel¬
ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenuͤber,
den erſten Anfang der ſchoͤnſten Vollendung des
animaliſchen Lebens auf der Erde.
Ich ſage, als die ſchoͤnſte Vollendung. Denn
im ſelben Grade, wie wir den Charakter einer
Pflanze, eines Thieres ſich deutlicher entwickeln
ſehen, im ſelbigen ſchreiben wir ihm auch eine
groͤßere Schoͤnheit zu; und umgekehrt, je ſchoͤner
wir die Bildungen der Natur finden, deſto voll¬
kommner wird ſich bei naͤherer Unterſuchung ihre
Charakteriſtik ausweiſen. Wem z. B. gefaͤllt nicht
das bloße gruͤne Blatt eines Roſenſtrauchs, einer
Weinrebe vor hundert andern Blaͤttern, wenn ihm
auch die Urſache dieſes Gefallens nicht klar iſt, er
wird aber bei genauerer Betrachtung auch dieſe
entdecken, und die feineren Faſern, die zarteren
Verzweigungen, den regelmaͤßigeren Schnitt, die
gelungene Auszackung des Blattes dafuͤr halten.
Wem gefaͤllt nicht die Geſtalt eines Pferdes beſ¬
ſer, als die Geſtalt einer Kuh und wer ſieht nicht
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/206>, abgerufen am 21.11.2024.
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