Federn und Haaren besetzt, sondern nach Außen sich ablöst, ein künstlerisches Residuum zurückläßt, einen Gesang, ein Gespinnst, ein Nest und der¬ gleichen zu Tage fördert. Das ist dieselbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die sich zum menschlichen Genius verklärt und zu¬ gleich mit dämonischer Unwiderstehlichkeit, mit un¬ bewußtem Drang wie mit menschlich bewußter Freiheit Meißel und Pinsel ergreift und eine zweite höhere Schöpfung in der Schöpfung hervorbringt.
Nur auf den höchsten Stufen der Individua¬ lität wirkt die unbewußte Natur seelische Schön¬ heit und Anmuth, der bewußte Mensch steht schon oder sollte schon auf dieser stehen, er findet das Gesetz der Schönheit in sich, außer sich, die Wahl des Schönsten steht seiner Künstlerhand offen und wenn er sich vergreift, wenn er statt Seelen nur Leiber, statt Edelm Unedles bildet, so fällt die Schuld einzig und allein auf sein Haupt, er hat seine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunst, sein schönstes Vorrecht vor der blind und nothdürftig waltenden Natur, ungehin¬ derte Bildung des Schönsten im Charakter des Individuellen, verkannt.
Diese glückliche Lage der Kunst zur Natur sollte man richtig einsehen und fleißig bedenken, will man über den Werth der verschiedenen Kunst¬
Federn und Haaren beſetzt, ſondern nach Außen ſich abloͤſt, ein kuͤnſtleriſches Reſiduum zuruͤcklaͤßt, einen Geſang, ein Geſpinnſt, ein Neſt und der¬ gleichen zu Tage foͤrdert. Das iſt dieſelbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die ſich zum menſchlichen Genius verklaͤrt und zu¬ gleich mit daͤmoniſcher Unwiderſtehlichkeit, mit un¬ bewußtem Drang wie mit menſchlich bewußter Freiheit Meißel und Pinſel ergreift und eine zweite hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt.
Nur auf den hoͤchſten Stufen der Individua¬ litaͤt wirkt die unbewußte Natur ſeeliſche Schoͤn¬ heit und Anmuth, der bewußte Menſch ſteht ſchon oder ſollte ſchon auf dieſer ſtehen, er findet das Geſetz der Schoͤnheit in ſich, außer ſich, die Wahl des Schoͤnſten ſteht ſeiner Kuͤnſtlerhand offen und wenn er ſich vergreift, wenn er ſtatt Seelen nur Leiber, ſtatt Edelm Unedles bildet, ſo faͤllt die Schuld einzig und allein auf ſein Haupt, er hat ſeine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunſt, ſein ſchoͤnſtes Vorrecht vor der blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬ derte Bildung des Schoͤnſten im Charakter des Individuellen, verkannt.
Dieſe gluͤckliche Lage der Kunſt zur Natur ſollte man richtig einſehen und fleißig bedenken, will man uͤber den Werth der verſchiedenen Kunſt¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0216"n="202"/>
Federn und Haaren beſetzt, ſondern nach Außen<lb/>ſich abloͤſt, ein kuͤnſtleriſches Reſiduum zuruͤcklaͤßt,<lb/>
einen Geſang, ein Geſpinnſt, ein Neſt und der¬<lb/>
gleichen zu Tage foͤrdert. Das iſt dieſelbe bildende<lb/>
Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte,<lb/>
die ſich zum menſchlichen Genius verklaͤrt und zu¬<lb/>
gleich mit daͤmoniſcher Unwiderſtehlichkeit, mit un¬<lb/>
bewußtem Drang wie mit menſchlich bewußter<lb/>
Freiheit Meißel und Pinſel ergreift und eine zweite<lb/>
hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt.</p><lb/><p>Nur auf den hoͤchſten Stufen der Individua¬<lb/>
litaͤt wirkt die unbewußte Natur ſeeliſche Schoͤn¬<lb/>
heit und Anmuth, der bewußte Menſch ſteht ſchon<lb/>
oder ſollte ſchon auf dieſer ſtehen, er findet das<lb/>
Geſetz der Schoͤnheit in ſich, außer ſich, die<lb/>
Wahl des Schoͤnſten ſteht ſeiner Kuͤnſtlerhand<lb/>
offen und wenn er ſich vergreift, wenn er ſtatt<lb/>
Seelen nur Leiber, ſtatt Edelm Unedles bildet,<lb/>ſo faͤllt die Schuld einzig und allein auf ſein<lb/>
Haupt, er hat ſeine Freiheit gemißbraucht, den<lb/>
Beruf der Kunſt, ſein ſchoͤnſtes Vorrecht vor der<lb/>
blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬<lb/>
derte Bildung des Schoͤnſten im Charakter des<lb/>
Individuellen, verkannt.</p><lb/><p>Dieſe gluͤckliche Lage der Kunſt zur Natur<lb/>ſollte man richtig einſehen und fleißig bedenken,<lb/>
will man uͤber den Werth der verſchiedenen Kunſt¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[202/0216]
Federn und Haaren beſetzt, ſondern nach Außen
ſich abloͤſt, ein kuͤnſtleriſches Reſiduum zuruͤcklaͤßt,
einen Geſang, ein Geſpinnſt, ein Neſt und der¬
gleichen zu Tage foͤrdert. Das iſt dieſelbe bildende
Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte,
die ſich zum menſchlichen Genius verklaͤrt und zu¬
gleich mit daͤmoniſcher Unwiderſtehlichkeit, mit un¬
bewußtem Drang wie mit menſchlich bewußter
Freiheit Meißel und Pinſel ergreift und eine zweite
hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt.
Nur auf den hoͤchſten Stufen der Individua¬
litaͤt wirkt die unbewußte Natur ſeeliſche Schoͤn¬
heit und Anmuth, der bewußte Menſch ſteht ſchon
oder ſollte ſchon auf dieſer ſtehen, er findet das
Geſetz der Schoͤnheit in ſich, außer ſich, die
Wahl des Schoͤnſten ſteht ſeiner Kuͤnſtlerhand
offen und wenn er ſich vergreift, wenn er ſtatt
Seelen nur Leiber, ſtatt Edelm Unedles bildet,
ſo faͤllt die Schuld einzig und allein auf ſein
Haupt, er hat ſeine Freiheit gemißbraucht, den
Beruf der Kunſt, ſein ſchoͤnſtes Vorrecht vor der
blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬
derte Bildung des Schoͤnſten im Charakter des
Individuellen, verkannt.
Dieſe gluͤckliche Lage der Kunſt zur Natur
ſollte man richtig einſehen und fleißig bedenken,
will man uͤber den Werth der verſchiedenen Kunſt¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/216>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.