Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Immermann statt Schiller's und Goethe's auf
dem deutschen Kothurn einherstolziren. Allein man
würde diesen Verlust nicht gehörig würdigen, wenn
man glaubte, es sei wünschenswerth oder über¬
haupt nur möglich, daß die kreisende Zeit uns
einen andern Schiller und Goethe gebäre. Und
hatten wir auch Dichter, so groß wie diese, wir
hatten damit noch keine Schiller'sche und Goethe¬
sche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die
sich naturgemäß äußern soll, gehört zweierlei, ein
Raum, worauf sie wirkt, eine Feder, die sie sprin¬
gen läßt. Beides fehlt in Deutschland dem Dra¬
mendichter. Jener rein poetische Schwung, der
die Köpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff
und sie erst bei der Befreiung Deutschlands und
dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der
Geschichte der Poesie einzig in seiner Art, durch¬
aus ohne Beispiel, wenn man nicht ungehöriger
Weise das Augusteische Zeitalter damit vergleichen
wollte, das allerdings eine pilzartig schnell auf¬
wachsende Literatur aufzuweisen hat, die auf frem¬
dem griechischen Boden entsprossen, mit keinem
Lebensgeflecht des alten Roms zusammenhing, die
aber sich doch eines nationalen Sonnenscheins er¬
freute, indem Rom, obgleich beherrscht, Herrsche¬
rin des Erdbodens war. Deutschland hingegen
fand sich in Goethe's Jugend und Mannsalter in

Immermann ſtatt Schiller's und Goethe's auf
dem deutſchen Kothurn einherſtolziren. Allein man
wuͤrde dieſen Verluſt nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn
man glaubte, es ſei wuͤnſchenswerth oder uͤber¬
haupt nur moͤglich, daß die kreiſende Zeit uns
einen andern Schiller und Goethe gebaͤre. Und
hatten wir auch Dichter, ſo groß wie dieſe, wir
hatten damit noch keine Schiller'ſche und Goethe¬
ſche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die
ſich naturgemaͤß aͤußern ſoll, gehoͤrt zweierlei, ein
Raum, worauf ſie wirkt, eine Feder, die ſie ſprin¬
gen laͤßt. Beides fehlt in Deutſchland dem Dra¬
mendichter. Jener rein poetiſche Schwung, der
die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff
und ſie erſt bei der Befreiung Deutſchlands und
dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der
Geſchichte der Poeſie einzig in ſeiner Art, durch¬
aus ohne Beiſpiel, wenn man nicht ungehoͤriger
Weiſe das Auguſteiſche Zeitalter damit vergleichen
wollte, das allerdings eine pilzartig ſchnell auf¬
wachſende Literatur aufzuweiſen hat, die auf frem¬
dem griechiſchen Boden entſproſſen, mit keinem
Lebensgeflecht des alten Roms zuſammenhing, die
aber ſich doch eines nationalen Sonnenſcheins er¬
freute, indem Rom, obgleich beherrſcht, Herrſche¬
rin des Erdbodens war. Deutſchland hingegen
fand ſich in Goethe's Jugend und Mannsalter in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0264" n="250"/>
Immermann &#x017F;tatt Schiller's und Goethe's auf<lb/>
dem deut&#x017F;chen Kothurn einher&#x017F;tolziren. Allein man<lb/>
wu&#x0364;rde die&#x017F;en Verlu&#x017F;t nicht geho&#x0364;rig wu&#x0364;rdigen, wenn<lb/>
man glaubte, es &#x017F;ei wu&#x0364;n&#x017F;chenswerth oder u&#x0364;ber¬<lb/>
haupt nur mo&#x0364;glich, daß die krei&#x017F;ende Zeit uns<lb/>
einen andern Schiller und Goethe geba&#x0364;re. Und<lb/>
hatten wir auch Dichter, &#x017F;o groß wie die&#x017F;e, wir<lb/>
hatten damit noch keine Schiller'&#x017F;che und Goethe¬<lb/>
&#x017F;che Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die<lb/>
&#x017F;ich naturgema&#x0364;ß a&#x0364;ußern &#x017F;oll, geho&#x0364;rt zweierlei, ein<lb/>
Raum, worauf &#x017F;ie wirkt, eine Feder, die &#x017F;ie &#x017F;prin¬<lb/>
gen la&#x0364;ßt. Beides fehlt in Deut&#x017F;chland dem Dra¬<lb/>
mendichter. Jener rein poeti&#x017F;che Schwung, der<lb/>
die Ko&#x0364;pfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff<lb/>
und &#x017F;ie er&#x017F;t bei der Befreiung Deut&#x017F;chlands und<lb/>
dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Poe&#x017F;ie einzig in &#x017F;einer Art, durch¬<lb/>
aus ohne Bei&#x017F;piel, wenn man nicht ungeho&#x0364;riger<lb/>
Wei&#x017F;e das Augu&#x017F;tei&#x017F;che Zeitalter damit vergleichen<lb/>
wollte, das allerdings eine pilzartig &#x017F;chnell auf¬<lb/>
wach&#x017F;ende Literatur aufzuwei&#x017F;en hat, die auf frem¬<lb/>
dem griechi&#x017F;chen Boden ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en, mit keinem<lb/>
Lebensgeflecht des alten Roms zu&#x017F;ammenhing, die<lb/>
aber &#x017F;ich doch eines nationalen Sonnen&#x017F;cheins er¬<lb/>
freute, indem Rom, obgleich beherr&#x017F;cht, Herr&#x017F;che¬<lb/>
rin des Erdbodens war. Deut&#x017F;chland hingegen<lb/>
fand &#x017F;ich in Goethe's Jugend und Mannsalter in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0264] Immermann ſtatt Schiller's und Goethe's auf dem deutſchen Kothurn einherſtolziren. Allein man wuͤrde dieſen Verluſt nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn man glaubte, es ſei wuͤnſchenswerth oder uͤber¬ haupt nur moͤglich, daß die kreiſende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebaͤre. Und hatten wir auch Dichter, ſo groß wie dieſe, wir hatten damit noch keine Schiller'ſche und Goethe¬ ſche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die ſich naturgemaͤß aͤußern ſoll, gehoͤrt zweierlei, ein Raum, worauf ſie wirkt, eine Feder, die ſie ſprin¬ gen laͤßt. Beides fehlt in Deutſchland dem Dra¬ mendichter. Jener rein poetiſche Schwung, der die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und ſie erſt bei der Befreiung Deutſchlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geſchichte der Poeſie einzig in ſeiner Art, durch¬ aus ohne Beiſpiel, wenn man nicht ungehoͤriger Weiſe das Auguſteiſche Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig ſchnell auf¬ wachſende Literatur aufzuweiſen hat, die auf frem¬ dem griechiſchen Boden entſproſſen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zuſammenhing, die aber ſich doch eines nationalen Sonnenſcheins er¬ freute, indem Rom, obgleich beherrſcht, Herrſche¬ rin des Erdbodens war. Deutſchland hingegen fand ſich in Goethe's Jugend und Mannsalter in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/264
Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/264>, abgerufen am 22.11.2024.