der Deutsche, darf ich ferner behaupten, konnte sich für seine einzelne Person in diesen Werken spiegeln, seine Bildung ging denselben Gang, wie die Goethesche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwärtig in der überwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheschen Werke, in dem etwas seit der Zeit, daß sie ge¬ schrieben, beschleunigten und zusammengedrängten Leben und Bildungslauf eines Deutschen studiren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts sich suc¬ cessiver in Perioden von längerer Dauer auf ein¬ ander folgte, das ging nun eben so successive in Perioden von kürzerer Dauer vor sich. Jener Zeit in Deutschland, als der Werther gedichtet wurde, als nämlich eine unbestimmte, schmach¬ tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnsucht sich der jugendlichen Gemüther bemäch¬ tigt hatte, entsprach und entspricht der Zustand eines Schülers, Primaners, der voll Sehnsucht und voll Hoffnungen steckt, ohne so recht eigent¬ lich das Objekt dieser Sehnsucht zu kennen, und ohne zu wissen, was er wünscht. Jener andern Zeit, als der Götz von Berlichingen die übermü¬ thige, ritterliche Kraftperiode der deutschen Litera¬ tur ausdrückte und repräsentirte, entsprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutschen, wo er auf Universitäten sich erst zurechtfand, die
der Deutſche, darf ich ferner behaupten, konnte ſich fuͤr ſeine einzelne Perſon in dieſen Werken ſpiegeln, ſeine Bildung ging denſelben Gang, wie die Goetheſche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheſchen Werke, in dem etwas ſeit der Zeit, daß ſie ge¬ ſchrieben, beſchleunigten und zuſammengedraͤngten Leben und Bildungslauf eines Deutſchen ſtudiren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts ſich ſuc¬ ceſſiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf ein¬ ander folgte, das ging nun eben ſo ſucceſſive in Perioden von kuͤrzerer Dauer vor ſich. Jener Zeit in Deutſchland, als der Werther gedichtet wurde, als naͤmlich eine unbeſtimmte, ſchmach¬ tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnſucht ſich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤch¬ tigt hatte, entſprach und entſpricht der Zuſtand eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnſucht und voll Hoffnungen ſteckt, ohne ſo recht eigent¬ lich das Objekt dieſer Sehnſucht zu kennen, und ohne zu wiſſen, was er wuͤnſcht. Jener andern Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤ¬ thige, ritterliche Kraftperiode der deutſchen Litera¬ tur ausdruͤckte und repraͤſentirte, entſprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutſchen, wo er auf Univerſitaͤten ſich erſt zurechtfand, die
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der Deutſche, darf ich ferner behaupten, konnte
ſich fuͤr ſeine einzelne Perſon in dieſen Werken
ſpiegeln, ſeine Bildung ging denſelben Gang, wie
die Goetheſche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren,
vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden
Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheſchen
Werke, in dem etwas ſeit der Zeit, daß ſie ge¬
ſchrieben, beſchleunigten und zuſammengedraͤngten
Leben und Bildungslauf eines Deutſchen ſtudiren.
Was am Ende des vorigen Jahrhunderts ſich ſuc¬
ceſſiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf ein¬
ander folgte, das ging nun eben ſo ſucceſſive in
Perioden von kuͤrzerer Dauer vor ſich. Jener
Zeit in Deutſchland, als der Werther gedichtet
wurde, als naͤmlich eine unbeſtimmte, ſchmach¬
tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte
Sehnſucht ſich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤch¬
tigt hatte, entſprach und entſpricht der Zuſtand
eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnſucht
und voll Hoffnungen ſteckt, ohne ſo recht eigent¬
lich das Objekt dieſer Sehnſucht zu kennen, und
ohne zu wiſſen, was er wuͤnſcht. Jener andern
Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤ¬
thige, ritterliche Kraftperiode der deutſchen Litera¬
tur ausdruͤckte und repraͤſentirte, entſprach wieder
jenes Stadium im Leben eines jungen Deutſchen,
wo er auf Univerſitaͤten ſich erſt zurechtfand, die
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/268>, abgerufen am 21.11.2024.
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