daß mit dem Schlusse dieser Epochen die geistige Entwicklung völlig aufhört -- das Positive ver¬ fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Brust der Menschheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu blühen, zu wachsen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geistige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Völker, z. B. einst der Griechen und unsers eigenen Volks und vergleiche diese mit den europäischen der Gegen¬ wart, so sehne ich mich unter jenen geschichtlosen Menschen zu leben, die nichts hinter sich sehen, als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum für ihre Kraft. Die Menschheit, sagen freilich die feudalen Histo¬ riker, ist nicht so übel daran, immerfort bildet und beseelt sie das Alte, den Theil, der sich nicht länger bilden und beseelen läßt, streift sie von sich ab und sie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬ ter zu tragen, als sich selbst. -- Was nicht ist, bemerken Andere, sollte wenigstens so sein: succes¬ sive Fortentwicklung ist das Gesetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬ vidiren, durch Stehenlassen und Ausmerzen Heute und Gestern mit einander zu versöhnen. Aber, frage ich, wer schreibt denn die Gesetze des Le¬ bens, Ihr oder die Geschichte. Seht Ihr nicht,
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daß mit dem Schluſſe dieſer Epochen die geiſtige Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Poſitive ver¬ fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Bruſt der Menſchheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu bluͤhen, zu wachſen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geiſtige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B. einſt der Griechen und unſers eigenen Volks und vergleiche dieſe mit den europaͤiſchen der Gegen¬ wart, ſo ſehne ich mich unter jenen geſchichtloſen Menſchen zu leben, die nichts hinter ſich ſehen, als ihre eigenen Fußſtapfen und nichts vor ſich als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft. Die Menſchheit, ſagen freilich die feudalen Hiſto¬ riker, iſt nicht ſo uͤbel daran, immerfort bildet und beſeelt ſie das Alte, den Theil, der ſich nicht laͤnger bilden und beſeelen laͤßt, ſtreift ſie von ſich ab und ſie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬ ter zu tragen, als ſich ſelbſt. — Was nicht iſt, bemerken Andere, ſollte wenigſtens ſo ſein: ſucceſ¬ ſive Fortentwicklung iſt das Geſetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬ vidiren, durch Stehenlaſſen und Ausmerzen Heute und Geſtern mit einander zu verſoͤhnen. Aber, frage ich, wer ſchreibt denn die Geſetze des Le¬ bens, Ihr oder die Geſchichte. Seht Ihr nicht,
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daß mit dem Schluſſe dieſer Epochen die geiſtige
Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Poſitive ver¬
fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Bruſt
der Menſchheit fallen, zur neuen Entwicklung von
Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit
haben, um zu bluͤhen, zu wachſen, zu welken
und zu vergehen. Betrachte ich die geiſtige und
leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B.
einſt der Griechen und unſers eigenen Volks und
vergleiche dieſe mit den europaͤiſchen der Gegen¬
wart, ſo ſehne ich mich unter jenen geſchichtloſen
Menſchen zu leben, die nichts hinter ſich ſehen,
als ihre eigenen Fußſtapfen und nichts vor ſich
als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft.
Die Menſchheit, ſagen freilich die feudalen Hiſto¬
riker, iſt nicht ſo uͤbel daran, immerfort bildet
und beſeelt ſie das Alte, den Theil, der ſich nicht
laͤnger bilden und beſeelen laͤßt, ſtreift ſie von ſich
ab und ſie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬
ter zu tragen, als ſich ſelbſt. — Was nicht iſt,
bemerken Andere, ſollte wenigſtens ſo ſein: ſucceſ¬
ſive Fortentwicklung iſt das Geſetz des Lebens, jede
Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬
vidiren, durch Stehenlaſſen und Ausmerzen Heute
und Geſtern mit einander zu verſoͤhnen. Aber,
frage ich, wer ſchreibt denn die Geſetze des Le¬
bens, Ihr oder die Geſchichte. Seht Ihr nicht,
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/49>, abgerufen am 21.11.2024.
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