Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wienbarg, Ludolf: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres. Hamburg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

und nach der Predigt. Das kommt ihnen aus dem Herzen, dabei fühlen sie sich wohl und vergewissern sich, daß sie in ihrer eigenen Haut stecken, was ihnen, sobald sie hochdeutschen, sehr problematisch wird.

Der erste Schulgang macht in der Regel auch die erste Bekanntschaft mit der hochdeutschen Sprache. Mit Händen und Füßen sträubt sich der Knabe dagegen. Ich bedaure ihn, er soll nicht bloß seine bisherige Freiheit verlieren, unter die Zuchtruthe treten, buchstabiren lernen, was auch andern Kindern Herzeleid macht; er soll überdies in einer Sprache buchstabiren und lesen lernen, die er nicht kennt, die nicht mit ihm aufgewachsen ist, deren Töne er nicht beim Spiel, nicht von seiner Mutter, seinem Vater, seinen kleinen und großen Freunden zu hören gewohnt war. Alles was er von diesem Augenblick an liest, lernt, hört in der Schule und unter den Augen des Lehrers, klingt ihm gelehrt, fremd, vornehm und tausend Meilen von seinem Dorf entfernt. Daß der rothe Hahn in seiner Fibel kräht und der lebendige in seinem Hause krait, scheint ihm sehr sonderbar. In der Bibel nennen sich alle Leute du, der Unterlehrer sagt zum Oberlehrer sie, er aber ist gewohnt, bloß seine Kameraden zu dutzen, Vater, Mutter und andere Erwachsene mit he und se anzureden. Kommt an ihn die Reihe zu lesen, laut zu lesen, so nimmt er die Wörter auf die Zunge und stößt sie heraus wie die Scheiben einer Frucht, die er nicht essen mag, weil er sie nicht kennt. Was er auswendig lernt, lernt er nicht einwendig. Was ihm allenfalls noch Vergnügen macht, ist der gemeinschaftliche Gesang am Schluß der Schule und auf Kirchbänken. Von Natur mit einer hellen durchdringenden Stimme begabt, wetteifert er mit dem Chor um die höchsten Noten, betäubt seinen Kopf und findet eine Art Vergnügen und Erholung darin, dieselben Verse des Gesangbuches bloß herauszuschreien, die er zu anderer Zeit auswendig lernen muß.

Erreicht er das gesetzliche Alter, so wird er konfirmirt. Wer ist froher als er. Nun tritt er völlig wieder in das plattdeutsche

und nach der Predigt. Das kommt ihnen aus dem Herzen, dabei fühlen sie sich wohl und vergewissern sich, daß sie in ihrer eigenen Haut stecken, was ihnen, sobald sie hochdeutschen, sehr problematisch wird.

Der erste Schulgang macht in der Regel auch die erste Bekanntschaft mit der hochdeutschen Sprache. Mit Händen und Füßen sträubt sich der Knabe dagegen. Ich bedaure ihn, er soll nicht bloß seine bisherige Freiheit verlieren, unter die Zuchtruthe treten, buchstabiren lernen, was auch andern Kindern Herzeleid macht; er soll überdies in einer Sprache buchstabiren und lesen lernen, die er nicht kennt, die nicht mit ihm aufgewachsen ist, deren Töne er nicht beim Spiel, nicht von seiner Mutter, seinem Vater, seinen kleinen und großen Freunden zu hören gewohnt war. Alles was er von diesem Augenblick an liest, lernt, hört in der Schule und unter den Augen des Lehrers, klingt ihm gelehrt, fremd, vornehm und tausend Meilen von seinem Dorf entfernt. Daß der rothe Hahn in seiner Fibel kräht und der lebendige in seinem Hause krait, scheint ihm sehr sonderbar. In der Bibel nennen sich alle Leute du, der Unterlehrer sagt zum Oberlehrer sie, er aber ist gewohnt, bloß seine Kameraden zu dutzen, Vater, Mutter und andere Erwachsene mit he und se anzureden. Kommt an ihn die Reihe zu lesen, laut zu lesen, so nimmt er die Wörter auf die Zunge und stößt sie heraus wie die Scheiben einer Frucht, die er nicht essen mag, weil er sie nicht kennt. Was er auswendig lernt, lernt er nicht einwendig. Was ihm allenfalls noch Vergnügen macht, ist der gemeinschaftliche Gesang am Schluß der Schule und auf Kirchbänken. Von Natur mit einer hellen durchdringenden Stimme begabt, wetteifert er mit dem Chor um die höchsten Noten, betäubt seinen Kopf und findet eine Art Vergnügen und Erholung darin, dieselben Verse des Gesangbuches bloß herauszuschreien, die er zu anderer Zeit auswendig lernen muß.

Erreicht er das gesetzliche Alter, so wird er konfirmirt. Wer ist froher als er. Nun tritt er völlig wieder in das plattdeutsche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0017" n="17"/>
und nach der Predigt. Das kommt ihnen aus dem Herzen, dabei fühlen sie sich wohl und vergewissern sich, daß sie in ihrer eigenen Haut stecken, was ihnen, sobald sie hochdeutschen, sehr problematisch wird.</p>
        <p>Der erste Schulgang macht in der Regel auch die erste Bekanntschaft mit der hochdeutschen Sprache. Mit Händen und Füßen sträubt sich der Knabe dagegen. Ich bedaure ihn, er soll nicht bloß seine bisherige Freiheit verlieren, unter die Zuchtruthe treten, buchstabiren lernen, was auch andern Kindern Herzeleid macht; er soll überdies in einer Sprache buchstabiren und lesen lernen, die er nicht kennt, die nicht mit ihm aufgewachsen ist, deren Töne er nicht beim Spiel, nicht von seiner Mutter, seinem Vater, seinen kleinen und großen Freunden zu hören gewohnt war. Alles was er von diesem Augenblick an liest, lernt, hört in der Schule und unter den Augen des Lehrers, klingt ihm gelehrt, fremd, vornehm und tausend Meilen von seinem Dorf entfernt. Daß der rothe Hahn in seiner Fibel <hi rendition="#g">kräht</hi> und der lebendige in seinem Hause <hi rendition="#g">krait</hi>, scheint ihm sehr sonderbar. In der Bibel nennen sich alle Leute <hi rendition="#g">du</hi>, der Unterlehrer sagt zum Oberlehrer <hi rendition="#g">sie</hi>, er aber ist gewohnt, bloß seine Kameraden zu dutzen, Vater, Mutter und andere Erwachsene mit <hi rendition="#g">he</hi> und <hi rendition="#g">se</hi> anzureden. Kommt an ihn die Reihe zu lesen, laut zu lesen, so nimmt er die Wörter auf die Zunge und stößt sie heraus wie die Scheiben einer Frucht, die er nicht essen mag, weil er sie nicht kennt. Was er auswendig lernt, lernt er nicht einwendig. Was ihm allenfalls noch Vergnügen macht, ist der gemeinschaftliche Gesang am Schluß der Schule und auf Kirchbänken. Von Natur mit einer hellen durchdringenden Stimme begabt, wetteifert er mit dem Chor um die höchsten Noten, betäubt seinen Kopf und findet eine Art Vergnügen und Erholung darin, dieselben Verse des Gesangbuches bloß herauszuschreien, die er zu anderer Zeit auswendig lernen muß.</p>
        <p>Erreicht er das gesetzliche Alter, so wird er konfirmirt. Wer ist froher als er. Nun tritt er völlig wieder in das plattdeutsche
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0017] und nach der Predigt. Das kommt ihnen aus dem Herzen, dabei fühlen sie sich wohl und vergewissern sich, daß sie in ihrer eigenen Haut stecken, was ihnen, sobald sie hochdeutschen, sehr problematisch wird. Der erste Schulgang macht in der Regel auch die erste Bekanntschaft mit der hochdeutschen Sprache. Mit Händen und Füßen sträubt sich der Knabe dagegen. Ich bedaure ihn, er soll nicht bloß seine bisherige Freiheit verlieren, unter die Zuchtruthe treten, buchstabiren lernen, was auch andern Kindern Herzeleid macht; er soll überdies in einer Sprache buchstabiren und lesen lernen, die er nicht kennt, die nicht mit ihm aufgewachsen ist, deren Töne er nicht beim Spiel, nicht von seiner Mutter, seinem Vater, seinen kleinen und großen Freunden zu hören gewohnt war. Alles was er von diesem Augenblick an liest, lernt, hört in der Schule und unter den Augen des Lehrers, klingt ihm gelehrt, fremd, vornehm und tausend Meilen von seinem Dorf entfernt. Daß der rothe Hahn in seiner Fibel kräht und der lebendige in seinem Hause krait, scheint ihm sehr sonderbar. In der Bibel nennen sich alle Leute du, der Unterlehrer sagt zum Oberlehrer sie, er aber ist gewohnt, bloß seine Kameraden zu dutzen, Vater, Mutter und andere Erwachsene mit he und se anzureden. Kommt an ihn die Reihe zu lesen, laut zu lesen, so nimmt er die Wörter auf die Zunge und stößt sie heraus wie die Scheiben einer Frucht, die er nicht essen mag, weil er sie nicht kennt. Was er auswendig lernt, lernt er nicht einwendig. Was ihm allenfalls noch Vergnügen macht, ist der gemeinschaftliche Gesang am Schluß der Schule und auf Kirchbänken. Von Natur mit einer hellen durchdringenden Stimme begabt, wetteifert er mit dem Chor um die höchsten Noten, betäubt seinen Kopf und findet eine Art Vergnügen und Erholung darin, dieselben Verse des Gesangbuches bloß herauszuschreien, die er zu anderer Zeit auswendig lernen muß. Erreicht er das gesetzliche Alter, so wird er konfirmirt. Wer ist froher als er. Nun tritt er völlig wieder in das plattdeutsche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-21T08:45:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-21T08:45:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-21T08:45:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_plattdeutsch_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_plattdeutsch_1834/17
Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres. Hamburg, 1834, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_plattdeutsch_1834/17>, abgerufen am 03.12.2024.