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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Kindheit.
und dann 'eine obscure arztstube zumachen' lassen7), womit sie die wahr-
heit aussprechen, dass er dem ererbten berufe untreu geworden ist.
damit ist die tradition nicht gerechtfertigt, dass er ihn je begonnen hat.
und wenn seine naturwissenschaftlichen studien ihn selbst zur ana-
tomie getrieben haben, so haben wir leider keinen anhalt, zu er-
kennen, ob er schon als knabe solche beschäftigungen getrieben oder
gesehen hat oder erst in der schule Platons auf sie geführt ist, wo die
anregung ihm sicher geboten ward. eben so wenig können wir
uns vermessen, die gerechte würdigung des Demokritos auf jugendein-
drücke zurückzuführen. jedenfalls aber war der siebzehnjährige willens
alles andere eher zu werden als arzt, und zogen ihn vielmehr die geistes-
wissenschaften an, denn er gieng nach Athen: für den studenten der
medicin war da nicht viel zu holen.

Nikomachos war damals lange tot; ob auch die mutter, ist fraglich;
geschwister aber lebten noch. die verantwortung für die erziehung des
Aristoteles, also auch für die erlaubnis zu der entscheidenden reise, hat
ein gewisser Proxenos getragen, dem sein mündel die volle dankbarkeit
eines sohnes bewahrt hat. er verordnet in seinem testamente für Pro-
xenos wie für seine mutter, seinen ohne descendenz vor ihm verstorbenen
bruder und seine frau stiftungen zu ihrem ehrenden gedächtnis (für
seinen vater nicht), vor allem aber hat er dem sohne des Proxenos,
Nikanor, die hand seiner einzigen ehelichen tochter, die damals noch
nicht mannbar war, bestimmt. das sollte für diese eine sichere ver-
sorgung sein und jenem das vermögen zusichern, beides sofort, nicht
erst nach der hochzeit und mit den beschränkungen, welche frauengut
und gar erbtochtergut mit sich bringt. deshalb hat Aristoteles die fiction
gewählt, dass er Nikanor für diesen fall adoptirte. er hat das offen-
bar mit ihm abgemacht, und zwar juristisch bindend abgemacht8), als
jener im sommer 324 vom hoflager des königs nach Hellas gekommen
war. denn er war ein officier bereits in hoher stellung, natürlich auch
kein jüngling mehr, da er der sohn von Aristoteles' vormund war, be-

7) Epikur fgm. 171, Aristokles bei Euseb. pr. ev. XV 791, Polybios XII 7.
übrigens stehn bei beiden noch mehr verläumdungen, die keines wortes mehr
bedürfen. irgend welche anhaltspunkte werden sie ja gehabt haben, wenn sie auch
von einem kriegsdienste des Aristoteles erzählen, aber was das war, wissen wir
nicht und brauchen schwerlich traurig darüber zu sein. übrigens ist kaum denkbar,
dass einer der beiden sehr ungleichen zeitgenossen von dem anderen abgehangen hätte.
8) Darum verbreitet sich darüber das offenbar unmittelbar vor dem tode in
Chalkis verfasste testament, das wir lesen, nicht mehr.

Kindheit.
und dann ‘eine obscure arztstube zumachen’ lassen7), womit sie die wahr-
heit aussprechen, daſs er dem ererbten berufe untreu geworden ist.
damit ist die tradition nicht gerechtfertigt, daſs er ihn je begonnen hat.
und wenn seine naturwissenschaftlichen studien ihn selbst zur ana-
tomie getrieben haben, so haben wir leider keinen anhalt, zu er-
kennen, ob er schon als knabe solche beschäftigungen getrieben oder
gesehen hat oder erst in der schule Platons auf sie geführt ist, wo die
anregung ihm sicher geboten ward. eben so wenig können wir
uns vermessen, die gerechte würdigung des Demokritos auf jugendein-
drücke zurückzuführen. jedenfalls aber war der siebzehnjährige willens
alles andere eher zu werden als arzt, und zogen ihn vielmehr die geistes-
wissenschaften an, denn er gieng nach Athen: für den studenten der
medicin war da nicht viel zu holen.

Nikomachos war damals lange tot; ob auch die mutter, ist fraglich;
geschwister aber lebten noch. die verantwortung für die erziehung des
Aristoteles, also auch für die erlaubnis zu der entscheidenden reise, hat
ein gewisser Proxenos getragen, dem sein mündel die volle dankbarkeit
eines sohnes bewahrt hat. er verordnet in seinem testamente für Pro-
xenos wie für seine mutter, seinen ohne descendenz vor ihm verstorbenen
bruder und seine frau stiftungen zu ihrem ehrenden gedächtnis (für
seinen vater nicht), vor allem aber hat er dem sohne des Proxenos,
Nikanor, die hand seiner einzigen ehelichen tochter, die damals noch
nicht mannbar war, bestimmt. das sollte für diese eine sichere ver-
sorgung sein und jenem das vermögen zusichern, beides sofort, nicht
erst nach der hochzeit und mit den beschränkungen, welche frauengut
und gar erbtochtergut mit sich bringt. deshalb hat Aristoteles die fiction
gewählt, daſs er Nikanor für diesen fall adoptirte. er hat das offen-
bar mit ihm abgemacht, und zwar juristisch bindend abgemacht8), als
jener im sommer 324 vom hoflager des königs nach Hellas gekommen
war. denn er war ein officier bereits in hoher stellung, natürlich auch
kein jüngling mehr, da er der sohn von Aristoteles’ vormund war, be-

7) Epikur fgm. 171, Aristokles bei Euseb. pr. ev. XV 791, Polybios XII 7.
übrigens stehn bei beiden noch mehr verläumdungen, die keines wortes mehr
bedürfen. irgend welche anhaltspunkte werden sie ja gehabt haben, wenn sie auch
von einem kriegsdienste des Aristoteles erzählen, aber was das war, wissen wir
nicht und brauchen schwerlich traurig darüber zu sein. übrigens ist kaum denkbar,
daſs einer der beiden sehr ungleichen zeitgenossen von dem anderen abgehangen hätte.
8) Darum verbreitet sich darüber das offenbar unmittelbar vor dem tode in
Chalkis verfaſste testament, das wir lesen, nicht mehr.
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[315/0329] Kindheit. und dann ‘eine obscure arztstube zumachen’ lassen 7), womit sie die wahr- heit aussprechen, daſs er dem ererbten berufe untreu geworden ist. damit ist die tradition nicht gerechtfertigt, daſs er ihn je begonnen hat. und wenn seine naturwissenschaftlichen studien ihn selbst zur ana- tomie getrieben haben, so haben wir leider keinen anhalt, zu er- kennen, ob er schon als knabe solche beschäftigungen getrieben oder gesehen hat oder erst in der schule Platons auf sie geführt ist, wo die anregung ihm sicher geboten ward. eben so wenig können wir uns vermessen, die gerechte würdigung des Demokritos auf jugendein- drücke zurückzuführen. jedenfalls aber war der siebzehnjährige willens alles andere eher zu werden als arzt, und zogen ihn vielmehr die geistes- wissenschaften an, denn er gieng nach Athen: für den studenten der medicin war da nicht viel zu holen. Nikomachos war damals lange tot; ob auch die mutter, ist fraglich; geschwister aber lebten noch. die verantwortung für die erziehung des Aristoteles, also auch für die erlaubnis zu der entscheidenden reise, hat ein gewisser Proxenos getragen, dem sein mündel die volle dankbarkeit eines sohnes bewahrt hat. er verordnet in seinem testamente für Pro- xenos wie für seine mutter, seinen ohne descendenz vor ihm verstorbenen bruder und seine frau stiftungen zu ihrem ehrenden gedächtnis (für seinen vater nicht), vor allem aber hat er dem sohne des Proxenos, Nikanor, die hand seiner einzigen ehelichen tochter, die damals noch nicht mannbar war, bestimmt. das sollte für diese eine sichere ver- sorgung sein und jenem das vermögen zusichern, beides sofort, nicht erst nach der hochzeit und mit den beschränkungen, welche frauengut und gar erbtochtergut mit sich bringt. deshalb hat Aristoteles die fiction gewählt, daſs er Nikanor für diesen fall adoptirte. er hat das offen- bar mit ihm abgemacht, und zwar juristisch bindend abgemacht 8), als jener im sommer 324 vom hoflager des königs nach Hellas gekommen war. denn er war ein officier bereits in hoher stellung, natürlich auch kein jüngling mehr, da er der sohn von Aristoteles’ vormund war, be- 7) Epikur fgm. 171, Aristokles bei Euseb. pr. ev. XV 791, Polybios XII 7. übrigens stehn bei beiden noch mehr verläumdungen, die keines wortes mehr bedürfen. irgend welche anhaltspunkte werden sie ja gehabt haben, wenn sie auch von einem kriegsdienste des Aristoteles erzählen, aber was das war, wissen wir nicht und brauchen schwerlich traurig darüber zu sein. übrigens ist kaum denkbar, daſs einer der beiden sehr ungleichen zeitgenossen von dem anderen abgehangen hätte. 8) Darum verbreitet sich darüber das offenbar unmittelbar vor dem tode in Chalkis verfaſste testament, das wir lesen, nicht mehr.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/329>, abgerufen am 24.11.2024.