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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
sonders ergeben der familie des Antipatros, und dieser als freund und
testamentsvollstrecker des Aristoteles hat offenbar das etwas complicirte
rechtsgeschäft vermittelt, das mit attischem familienrechte nicht gemessen
werden darf. dem Aristoteles lag daran, seine unmündige tochter zu
versorgen; sie bedurfte eines starken schutzes, den die familie selbst ihr
nicht geben konnte; ausserdem war die concubine Herpyllis zu befrie-
digen, der Aristoteles alles gute gönnte, deren sohn er aber nicht im
entferntesten gewillt war zu legitimiren, da er sonst Pythias schwer be-
einträchtig hätte. zu bieten hatte er ein offenbar recht ansehnliches
vermögen, das er gern dem sohne des Proxenos zuwandte. der ehr-
geizige officier ist auf das in der tat beiden teilen vorteilhafte geschäft
eingegangen, das auch allen beteiligten durchaus wol ansteht; man muss
nur mit antiken begriffen vertraut sein.

Nikanor war Stagirit: das ist unanfechtbar gesichert; die heimat
ist für diesen träger des damals nicht seltenen namens das kennzeichen.
folglich ist es sein vater auch gewesen, was ja auch das verhältnis der
beiden familien am nächsten legt. folglich ist eine in sich bedenkliche
nachricht falsch, die ihn mit Atarneus in verbindung bringt.9) man möchte
am liebsten glauben, dass Proxenos die verwittwete Phaistias geheiratet
hätte; jedenfalls ist er ein getreuer vormund gewesen. Aristoteles hat sein
lebtag nahrungssorgen nicht gekannt, sich seinem studium mit aller
kraft und in voller freiheit hingeben können, und hat sowol seiner
schule in seinem wissenschaftlichen nachlasse wie seiner tochter etwas
ansehnliches hinterlassen. er war offenbar von klein auf an eine be-
queme lebensführung gewöhnt, mit viel bedienung, solidem hausrat und
guter verpflegung; und er blieb dabei, trotzdem er ein philosoph ward,
und in Athen die lebensführung im allgemeinen bescheidener war als

9) In der vita, deren brechungen bei Rose s. 426. 437. 442 stehn, hiess es
etwa meta de ten teleuten Nikomakhou kai Phaistidos anagetai para Proxeno
Atarnei, ou kai tes trophes diamemnemenos ton uion Nikanora ethrepsen kai epaideusen
kai uion oikeion epoiesato u. s. w. darin ist Atarnei formell unverständlich und
schon deshalb durfte Bernays (Ges. Abh. I 167), dem Usener sich anschliesst, nicht
eine jugendzeit des Aristoteles in Atarneus annehmen. die freundschaft mit Hermias
ist durch die platonische schule vermittelt und in Athen geschlossen; das sagt ein
guter zeuge, Strabon 610, und es bestätigt sich dadurch, dass dieselbe freundschaft
den Xenokrates umschliesst. entscheidend tritt das vaterland Nikanors hinzu. wenn
Bernays die beurteilung der barbaren in der Politik auf die asiatischen eindrücke
des Aristoteles zurückführt, so stünde nichts im wege, ihn diese erst 346 gewinnen
zu lassen. aber Aristoteles gibt über den nationalcharakter nichts eigenes oder
eine frühe berührung mit dem oriente beweisendes.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
sonders ergeben der familie des Antipatros, und dieser als freund und
testamentsvollstrecker des Aristoteles hat offenbar das etwas complicirte
rechtsgeschäft vermittelt, das mit attischem familienrechte nicht gemessen
werden darf. dem Aristoteles lag daran, seine unmündige tochter zu
versorgen; sie bedurfte eines starken schutzes, den die familie selbst ihr
nicht geben konnte; auſserdem war die concubine Herpyllis zu befrie-
digen, der Aristoteles alles gute gönnte, deren sohn er aber nicht im
entferntesten gewillt war zu legitimiren, da er sonst Pythias schwer be-
einträchtig hätte. zu bieten hatte er ein offenbar recht ansehnliches
vermögen, das er gern dem sohne des Proxenos zuwandte. der ehr-
geizige officier ist auf das in der tat beiden teilen vorteilhafte geschäft
eingegangen, das auch allen beteiligten durchaus wol ansteht; man muſs
nur mit antiken begriffen vertraut sein.

Nikanor war Stagirit: das ist unanfechtbar gesichert; die heimat
ist für diesen träger des damals nicht seltenen namens das kennzeichen.
folglich ist es sein vater auch gewesen, was ja auch das verhältnis der
beiden familien am nächsten legt. folglich ist eine in sich bedenkliche
nachricht falsch, die ihn mit Atarneus in verbindung bringt.9) man möchte
am liebsten glauben, daſs Proxenos die verwittwete Phaistias geheiratet
hätte; jedenfalls ist er ein getreuer vormund gewesen. Aristoteles hat sein
lebtag nahrungssorgen nicht gekannt, sich seinem studium mit aller
kraft und in voller freiheit hingeben können, und hat sowol seiner
schule in seinem wissenschaftlichen nachlasse wie seiner tochter etwas
ansehnliches hinterlassen. er war offenbar von klein auf an eine be-
queme lebensführung gewöhnt, mit viel bedienung, solidem hausrat und
guter verpflegung; und er blieb dabei, trotzdem er ein philosoph ward,
und in Athen die lebensführung im allgemeinen bescheidener war als

9) In der vita, deren brechungen bei Rose s. 426. 437. 442 stehn, hieſs es
etwa μετὰ δὲ τὴν τελευτὴν Νικομάχου καὶ Φαιστίδος ἀνάγεται παϱὰ Πϱοξένῳ
Ἀταϱνεῖ, οὗ καὶ τῆς τϱοφῆς διαμεμνημένος τὸν υἱὸν Νικάνοϱα ἔϑϱεψεν καὶ ἐπαίδευσεν
καὶ υἱὸν οἰκεῖον ἐποιήσατο u. s. w. darin ist Ἀταϱνεῖ formell unverständlich und
schon deshalb durfte Bernays (Ges. Abh. I 167), dem Usener sich anschlieſst, nicht
eine jugendzeit des Aristoteles in Atarneus annehmen. die freundschaft mit Hermias
ist durch die platonische schule vermittelt und in Athen geschlossen; das sagt ein
guter zeuge, Strabon 610, und es bestätigt sich dadurch, daſs dieselbe freundschaft
den Xenokrates umschlieſst. entscheidend tritt das vaterland Nikanors hinzu. wenn
Bernays die beurteilung der barbaren in der Politik auf die asiatischen eindrücke
des Aristoteles zurückführt, so stünde nichts im wege, ihn diese erst 346 gewinnen
zu lassen. aber Aristoteles gibt über den nationalcharakter nichts eigenes oder
eine frühe berührung mit dem oriente beweisendes.
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[316/0330] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. sonders ergeben der familie des Antipatros, und dieser als freund und testamentsvollstrecker des Aristoteles hat offenbar das etwas complicirte rechtsgeschäft vermittelt, das mit attischem familienrechte nicht gemessen werden darf. dem Aristoteles lag daran, seine unmündige tochter zu versorgen; sie bedurfte eines starken schutzes, den die familie selbst ihr nicht geben konnte; auſserdem war die concubine Herpyllis zu befrie- digen, der Aristoteles alles gute gönnte, deren sohn er aber nicht im entferntesten gewillt war zu legitimiren, da er sonst Pythias schwer be- einträchtig hätte. zu bieten hatte er ein offenbar recht ansehnliches vermögen, das er gern dem sohne des Proxenos zuwandte. der ehr- geizige officier ist auf das in der tat beiden teilen vorteilhafte geschäft eingegangen, das auch allen beteiligten durchaus wol ansteht; man muſs nur mit antiken begriffen vertraut sein. Nikanor war Stagirit: das ist unanfechtbar gesichert; die heimat ist für diesen träger des damals nicht seltenen namens das kennzeichen. folglich ist es sein vater auch gewesen, was ja auch das verhältnis der beiden familien am nächsten legt. folglich ist eine in sich bedenkliche nachricht falsch, die ihn mit Atarneus in verbindung bringt. 9) man möchte am liebsten glauben, daſs Proxenos die verwittwete Phaistias geheiratet hätte; jedenfalls ist er ein getreuer vormund gewesen. Aristoteles hat sein lebtag nahrungssorgen nicht gekannt, sich seinem studium mit aller kraft und in voller freiheit hingeben können, und hat sowol seiner schule in seinem wissenschaftlichen nachlasse wie seiner tochter etwas ansehnliches hinterlassen. er war offenbar von klein auf an eine be- queme lebensführung gewöhnt, mit viel bedienung, solidem hausrat und guter verpflegung; und er blieb dabei, trotzdem er ein philosoph ward, und in Athen die lebensführung im allgemeinen bescheidener war als 9) In der vita, deren brechungen bei Rose s. 426. 437. 442 stehn, hieſs es etwa μετὰ δὲ τὴν τελευτὴν Νικομάχου καὶ Φαιστίδος ἀνάγεται παϱὰ Πϱοξένῳ Ἀταϱνεῖ, οὗ καὶ τῆς τϱοφῆς διαμεμνημένος τὸν υἱὸν Νικάνοϱα ἔϑϱεψεν καὶ ἐπαίδευσεν καὶ υἱὸν οἰκεῖον ἐποιήσατο u. s. w. darin ist Ἀταϱνεῖ formell unverständlich und schon deshalb durfte Bernays (Ges. Abh. I 167), dem Usener sich anschlieſst, nicht eine jugendzeit des Aristoteles in Atarneus annehmen. die freundschaft mit Hermias ist durch die platonische schule vermittelt und in Athen geschlossen; das sagt ein guter zeuge, Strabon 610, und es bestätigt sich dadurch, daſs dieselbe freundschaft den Xenokrates umschlieſst. entscheidend tritt das vaterland Nikanors hinzu. wenn Bernays die beurteilung der barbaren in der Politik auf die asiatischen eindrücke des Aristoteles zurückführt, so stünde nichts im wege, ihn diese erst 346 gewinnen zu lassen. aber Aristoteles gibt über den nationalcharakter nichts eigenes oder eine frühe berührung mit dem oriente beweisendes.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/330>, abgerufen am 24.11.2024.