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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
landmann oder kaufmann oder industriellen in ihren engen kreisen er-
zogen, so war jetzt zwar die militärische ausbildung selbst in Athen ver-
kümmert (Aristoteles hat sein lebtag weder neigung noch verständnis
dafür erlangt), aber der mahnruf der sophisten und der sokratiker "denkt an
die seelen eurer kinder" ward nachgerade von allen höher strebenden
befolgt. um tüchtig zu sein, bedarf man des wissens, zur arete gehört
die sophia, und die menschen, zumal die jugend, haben philosophein nötig,
um arete oder kalokagathia zu erlangen, das war ein anerkannter satz.
er schloss aber keineswegs in sich, dass diese philosophie mehr als ein
mittel zum zweck sein sollte, geschweige dass sie das leben füllen könnte.
und über den inhalt dessen was eigentlich zu treiben und zu lernen
wäre, war das publicum völlig im unklaren. denn es waren sehr ver-
schiedene waaren die sich unter dasselbe etikett stellten, und ein jeg-
licher, der sie vertrieb, behauptete natürlich die einzig ächte waare zu
liefern.

Uns erscheint der gegensatz der damals in ewig vorbildlicher weise
(ganz wie gerade heute wieder) mit einander ringenden mächte un-
verkennbar. hier philosophie, dort rhetorik, hier die ächte bildung der
menschenseele für die ewigkeit, dort die abrichtung für die welt des
tages, hier wissenschaft, dort allgemeine bildung, hier Platon, dort Isokrates.
aber das verdict, das die geschichte gesprochen hat, konnten die mit-
lebenden nicht ahnen: scheint es doch für die mächtigen des heutigen
tages auch vergebens gesprochen zu sein. und dann begehen wir selbst
nur zu leicht den fehler, zu wähnen, die philosophie hätte gleich von
vorn herein sich dabei bescheiden wollen, im schatten der hallen und
gärten einzelne zu erwecken, die welt aber ihrem schicksale anheim zu
geben. als Aristoteles den boden Athens betrat, bekannten sich grosse
massen, und gerade auch politisch und praktisch leitende männer zu der
'philosophie', die Isokrates als die allein für das leben geeignete zu lehren
verstand. die Akademie aber sah den morgen der neuen zeit, wo sie
höchst real die herrschaft in dem mächtigsten hellenischen reiche an-
treten wollte, gerade anbrechen, denn Dionysios I starb im winter 368/7.
Platon selbst brach nach Syrakus auf; wenn ihn Aristoteles noch vor-
her kennen gelernt hat, so ist doch in der nächsten zeit eine unter-
brechung in ihrem verkehre eingetreten, und Aristoteles hat sich selbst
helfen müssen oder andere lehrer gesucht.

Isokrates
und die
Rhetorik.
Wenn er unterricht bei Isokrates genommen hätte, so würden das
dessen schüler, zumal Kephisodoros, so nachdrücklich in ihren streitschriften
betont haben, dass wir es hören würden. aber studirt hat er ihn aller-

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
landmann oder kaufmann oder industriellen in ihren engen kreisen er-
zogen, so war jetzt zwar die militärische ausbildung selbst in Athen ver-
kümmert (Aristoteles hat sein lebtag weder neigung noch verständnis
dafür erlangt), aber der mahnruf der sophisten und der sokratiker “denkt an
die seelen eurer kinder” ward nachgerade von allen höher strebenden
befolgt. um tüchtig zu sein, bedarf man des wissens, zur ἀϱετή gehört
die σοφία, und die menschen, zumal die jugend, haben φιλοσοφεῖν nötig,
um ἀϱετή oder καλοκἀγαϑία zu erlangen, das war ein anerkannter satz.
er schloſs aber keineswegs in sich, daſs diese philosophie mehr als ein
mittel zum zweck sein sollte, geschweige daſs sie das leben füllen könnte.
und über den inhalt dessen was eigentlich zu treiben und zu lernen
wäre, war das publicum völlig im unklaren. denn es waren sehr ver-
schiedene waaren die sich unter dasselbe etikett stellten, und ein jeg-
licher, der sie vertrieb, behauptete natürlich die einzig ächte waare zu
liefern.

Uns erscheint der gegensatz der damals in ewig vorbildlicher weise
(ganz wie gerade heute wieder) mit einander ringenden mächte un-
verkennbar. hier philosophie, dort rhetorik, hier die ächte bildung der
menschenseele für die ewigkeit, dort die abrichtung für die welt des
tages, hier wissenschaft, dort allgemeine bildung, hier Platon, dort Isokrates.
aber das verdict, das die geschichte gesprochen hat, konnten die mit-
lebenden nicht ahnen: scheint es doch für die mächtigen des heutigen
tages auch vergebens gesprochen zu sein. und dann begehen wir selbst
nur zu leicht den fehler, zu wähnen, die philosophie hätte gleich von
vorn herein sich dabei bescheiden wollen, im schatten der hallen und
gärten einzelne zu erwecken, die welt aber ihrem schicksale anheim zu
geben. als Aristoteles den boden Athens betrat, bekannten sich groſse
massen, und gerade auch politisch und praktisch leitende männer zu der
‘philosophie’, die Isokrates als die allein für das leben geeignete zu lehren
verstand. die Akademie aber sah den morgen der neuen zeit, wo sie
höchst real die herrschaft in dem mächtigsten hellenischen reiche an-
treten wollte, gerade anbrechen, denn Dionysios I starb im winter 368/7.
Platon selbst brach nach Syrakus auf; wenn ihn Aristoteles noch vor-
her kennen gelernt hat, so ist doch in der nächsten zeit eine unter-
brechung in ihrem verkehre eingetreten, und Aristoteles hat sich selbst
helfen müssen oder andere lehrer gesucht.

Isokrates
und die
Rhetorik.
Wenn er unterricht bei Isokrates genommen hätte, so würden das
dessen schüler, zumal Kephisodoros, so nachdrücklich in ihren streitschriften
betont haben, daſs wir es hören würden. aber studirt hat er ihn aller-

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[318/0332] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. landmann oder kaufmann oder industriellen in ihren engen kreisen er- zogen, so war jetzt zwar die militärische ausbildung selbst in Athen ver- kümmert (Aristoteles hat sein lebtag weder neigung noch verständnis dafür erlangt), aber der mahnruf der sophisten und der sokratiker “denkt an die seelen eurer kinder” ward nachgerade von allen höher strebenden befolgt. um tüchtig zu sein, bedarf man des wissens, zur ἀϱετή gehört die σοφία, und die menschen, zumal die jugend, haben φιλοσοφεῖν nötig, um ἀϱετή oder καλοκἀγαϑία zu erlangen, das war ein anerkannter satz. er schloſs aber keineswegs in sich, daſs diese philosophie mehr als ein mittel zum zweck sein sollte, geschweige daſs sie das leben füllen könnte. und über den inhalt dessen was eigentlich zu treiben und zu lernen wäre, war das publicum völlig im unklaren. denn es waren sehr ver- schiedene waaren die sich unter dasselbe etikett stellten, und ein jeg- licher, der sie vertrieb, behauptete natürlich die einzig ächte waare zu liefern. Uns erscheint der gegensatz der damals in ewig vorbildlicher weise (ganz wie gerade heute wieder) mit einander ringenden mächte un- verkennbar. hier philosophie, dort rhetorik, hier die ächte bildung der menschenseele für die ewigkeit, dort die abrichtung für die welt des tages, hier wissenschaft, dort allgemeine bildung, hier Platon, dort Isokrates. aber das verdict, das die geschichte gesprochen hat, konnten die mit- lebenden nicht ahnen: scheint es doch für die mächtigen des heutigen tages auch vergebens gesprochen zu sein. und dann begehen wir selbst nur zu leicht den fehler, zu wähnen, die philosophie hätte gleich von vorn herein sich dabei bescheiden wollen, im schatten der hallen und gärten einzelne zu erwecken, die welt aber ihrem schicksale anheim zu geben. als Aristoteles den boden Athens betrat, bekannten sich groſse massen, und gerade auch politisch und praktisch leitende männer zu der ‘philosophie’, die Isokrates als die allein für das leben geeignete zu lehren verstand. die Akademie aber sah den morgen der neuen zeit, wo sie höchst real die herrschaft in dem mächtigsten hellenischen reiche an- treten wollte, gerade anbrechen, denn Dionysios I starb im winter 368/7. Platon selbst brach nach Syrakus auf; wenn ihn Aristoteles noch vor- her kennen gelernt hat, so ist doch in der nächsten zeit eine unter- brechung in ihrem verkehre eingetreten, und Aristoteles hat sich selbst helfen müssen oder andere lehrer gesucht. Wenn er unterricht bei Isokrates genommen hätte, so würden das dessen schüler, zumal Kephisodoros, so nachdrücklich in ihren streitschriften betont haben, daſs wir es hören würden. aber studirt hat er ihn aller- Isokrates und die Rhetorik.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/332>, abgerufen am 24.11.2024.