Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. zutreten, sonst hätte er nicht die gattungen der poesie hinnehmen können,wie sie eben geschichtlich, das heisst mehr oder minder zufällig, für ihn gegeben waren, und seine Poetik sogar nur auf die zur zeit gepflegten dichtungsarten beschränken können. er hat den bedeutenden schritt des überlegenen verstandes getan und die theorie des stiles, die Isokrates für die prosa vollendet hatte, auf alle menschliche rede, also auch die poesie ausgedehnt. er geht auch hier so vor, dass er die dem dichter praktisch gestellten aufgaben15) und die vorhandenen lösungen derselben, die poetische litteratur, zur grundlage nimmt; für ihre beurteilung hat er, wie für alles menschliche poiein und prattein die richtigen ge- sichtspunkte gefunden, er fragt nach ergon und organa, nach ou eneka und di on. gewiss ist dabei etwas bedeutendes herausgekommen. allein das spürt man auch noch in der Poetik, dass ihn der stil, die grenzen zwischen poesie und prosa und zwischen den einzelnen gattungen, zu- erst überwiegend beschäftigt hatten16); es ist das seinen fortschreitenden 15) Zu diesen gehörte das epos nicht mehr. indem Aristoteles den stoff Homers, die sage, überhaupt verkannte, hat er vielleicht mit verschuldet, dass Alexander, weil er heroisches vollbrachte, einem epiker stoff zu schaffen wähnte. aber er selbst ist doch durch Platon daran gewöhnt, epos und tragoedie wesentlich zusammen zu behandeln. das epos ist Homer, der einzige unübertreffliche; das ist etwas fertiges und liegt abgeschlossen vor. aber die tragoedie denkt er sich immer noch gepflegt, und er kommt im letzten capitel der poetik dem buchdrama sehr nahe. ich finde es durchaus recht, dass der verständigste in Athen 360--30 so urteilte. aber wer selbst ein dichter war und das gefühl für das wirklich lebenskräftige und lebenswürdige besass, sah auch hier, was dem verstande des verständigen entgieng. Platon hat die ganze schar der tragischen eintagsfliegen verachtet: er schrieb ja dialoge, weil das drama in versen 406 gestorben war. aber er beachtete in Antimachos den ionischen an sich schwerlich irgendwie erfreulichen neuerer, der die an farben und duft gleich prächtige episch-elegische poesie des Hellenismus vorbereitete. wenn die poesie nun einmal buchpoesie werden musste, und sie muss es unter complicirten culturbedingungen immer werden, so gebührten ihr die formen der erzählenden poesie, wie sie in voller freiheit (als meikton genos nach späterer terminologie) Ionien bereits ausgebildet hatte: sie mussten nur durch die höchste bewusste kunst in sprache und versbau der neuen cultur angepasst werden, und sie durften weder homerisch noch athenisch sein. der Athener Platon ist gross genug gewesen, auch das zu würdigen. er hat auch den Parmenides trotz seinen schlechten versen und den halbitaliker Sophron gewürdigt. dagegen für den trotz allem künsteln eigner kraft entbehrenden Empedokles hat Aristoteles eben wegen der einzelnen künste eine vorliebe, die Platon nicht teilt. 16) Daher die feinen betrachtungen im eingange der Poetik über Empedokles
Sophron u. a. der dialog über die dichter hatte dieses breiter ausgeführt. da war auch die herkunft des dialoges besprochen und zugegeben, dass Platons rede in die poesie überspielte. das hat Aristoteles als reifer mann nicht mehr gebilligt, denn I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. zutreten, sonst hätte er nicht die gattungen der poesie hinnehmen können,wie sie eben geschichtlich, das heiſst mehr oder minder zufällig, für ihn gegeben waren, und seine Poetik sogar nur auf die zur zeit gepflegten dichtungsarten beschränken können. er hat den bedeutenden schritt des überlegenen verstandes getan und die theorie des stiles, die Isokrates für die prosa vollendet hatte, auf alle menschliche rede, also auch die poesie ausgedehnt. er geht auch hier so vor, daſs er die dem dichter praktisch gestellten aufgaben15) und die vorhandenen lösungen derselben, die poetische litteratur, zur grundlage nimmt; für ihre beurteilung hat er, wie für alles menschliche ποιεῖν und πϱάττειν die richtigen ge- sichtspunkte gefunden, er fragt nach ἔϱγον und ὄϱγανα, nach οὗ ἕνεκα und δι̕ ὧν. gewiſs ist dabei etwas bedeutendes herausgekommen. allein das spürt man auch noch in der Poetik, daſs ihn der stil, die grenzen zwischen poesie und prosa und zwischen den einzelnen gattungen, zu- erst überwiegend beschäftigt hatten16); es ist das seinen fortschreitenden 15) Zu diesen gehörte das epos nicht mehr. indem Aristoteles den stoff Homers, die sage, überhaupt verkannte, hat er vielleicht mit verschuldet, daſs Alexander, weil er heroisches vollbrachte, einem epiker stoff zu schaffen wähnte. aber er selbst ist doch durch Platon daran gewöhnt, epos und tragoedie wesentlich zusammen zu behandeln. das epos ist Homer, der einzige unübertreffliche; das ist etwas fertiges und liegt abgeschlossen vor. aber die tragoedie denkt er sich immer noch gepflegt, und er kommt im letzten capitel der poetik dem buchdrama sehr nahe. ich finde es durchaus recht, daſs der verständigste in Athen 360—30 so urteilte. aber wer selbst ein dichter war und das gefühl für das wirklich lebenskräftige und lebenswürdige besaſs, sah auch hier, was dem verstande des verständigen entgieng. Platon hat die ganze schar der tragischen eintagsfliegen verachtet: er schrieb ja dialoge, weil das drama in versen 406 gestorben war. aber er beachtete in Antimachos den ionischen an sich schwerlich irgendwie erfreulichen neuerer, der die an farben und duft gleich prächtige episch-elegische poesie des Hellenismus vorbereitete. wenn die poesie nun einmal buchpoesie werden muſste, und sie muſs es unter complicirten culturbedingungen immer werden, so gebührten ihr die formen der erzählenden poesie, wie sie in voller freiheit (als μεικτὸν γένος nach späterer terminologie) Ionien bereits ausgebildet hatte: sie muſsten nur durch die höchste bewuſste kunst in sprache und versbau der neuen cultur angepaſst werden, und sie durften weder homerisch noch athenisch sein. der Athener Platon ist groſs genug gewesen, auch das zu würdigen. er hat auch den Parmenides trotz seinen schlechten versen und den halbitaliker Sophron gewürdigt. dagegen für den trotz allem künsteln eigner kraft entbehrenden Empedokles hat Aristoteles eben wegen der einzelnen künste eine vorliebe, die Platon nicht teilt. 16) Daher die feinen betrachtungen im eingange der Poetik über Empedokles
Sophron u. a. der dialog über die dichter hatte dieses breiter ausgeführt. da war auch die herkunft des dialoges besprochen und zugegeben, daſs Platons rede in die poesie überspielte. das hat Aristoteles als reifer mann nicht mehr gebilligt, denn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0336" n="322"/><fw place="top" type="header">I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.</fw><lb/> zutreten, sonst hätte er nicht die gattungen der poesie hinnehmen können,<lb/> wie sie eben geschichtlich, das heiſst mehr oder minder zufällig, für ihn<lb/> gegeben waren, und seine Poetik sogar nur auf die zur zeit gepflegten<lb/> dichtungsarten beschränken können. er hat den bedeutenden schritt<lb/> des überlegenen verstandes getan und die theorie des stiles, die Isokrates<lb/> für die prosa vollendet hatte, auf alle menschliche rede, also auch die<lb/> poesie ausgedehnt. er geht auch hier so vor, daſs er die dem dichter<lb/> praktisch gestellten aufgaben<note place="foot" n="15)">Zu diesen gehörte das epos nicht mehr. indem Aristoteles den stoff<lb/> Homers, die sage, überhaupt verkannte, hat er vielleicht mit verschuldet, daſs<lb/> Alexander, weil er heroisches vollbrachte, einem epiker stoff zu schaffen wähnte.<lb/> aber er selbst ist doch durch Platon daran gewöhnt, epos und tragoedie wesentlich<lb/> zusammen zu behandeln. das epos ist Homer, der einzige unübertreffliche; das ist<lb/> etwas fertiges und liegt abgeschlossen vor. aber die tragoedie denkt er sich immer<lb/> noch gepflegt, und er kommt im letzten capitel der poetik dem buchdrama sehr<lb/> nahe. ich finde es durchaus recht, daſs der verständigste in Athen 360—30<lb/> so urteilte. aber wer selbst ein dichter war und das gefühl für das wirklich<lb/> lebenskräftige und lebenswürdige besaſs, sah auch hier, was dem verstande des<lb/> verständigen entgieng. Platon hat die ganze schar der tragischen eintagsfliegen<lb/> verachtet: er schrieb ja dialoge, weil das drama in versen 406 gestorben war. aber<lb/> er beachtete in Antimachos den ionischen an sich schwerlich irgendwie erfreulichen<lb/> neuerer, der die an farben und duft gleich prächtige episch-elegische poesie des<lb/> Hellenismus vorbereitete. wenn die poesie nun einmal buchpoesie werden muſste,<lb/> und sie muſs es unter complicirten culturbedingungen immer werden, so gebührten<lb/> ihr die formen der erzählenden poesie, wie sie in voller freiheit (als μεικτὸν γένος<lb/> nach späterer terminologie) Ionien bereits ausgebildet hatte: sie muſsten nur durch<lb/> die höchste bewuſste kunst in sprache und versbau der neuen cultur angepaſst<lb/> werden, und sie durften weder homerisch noch athenisch sein. der Athener Platon<lb/> ist groſs genug gewesen, auch das zu würdigen. er hat auch den Parmenides trotz<lb/> seinen schlechten versen und den halbitaliker Sophron gewürdigt. dagegen für<lb/> den trotz allem künsteln eigner kraft entbehrenden Empedokles hat Aristoteles eben<lb/> wegen der einzelnen künste eine vorliebe, die Platon nicht teilt.</note> und die vorhandenen lösungen derselben,<lb/> die poetische litteratur, zur grundlage nimmt; für ihre beurteilung hat<lb/> er, wie für alles menschliche ποιεῖν und πϱάττειν die richtigen ge-<lb/> sichtspunkte gefunden, er fragt nach ἔϱγον und ὄϱγανα, nach οὗ ἕνεκα<lb/> und δι̕ ὧν. gewiſs ist dabei etwas bedeutendes herausgekommen. allein<lb/> das spürt man auch noch in der Poetik, daſs ihn der stil, die grenzen<lb/> zwischen poesie und prosa und zwischen den einzelnen gattungen, zu-<lb/> erst überwiegend beschäftigt hatten<note xml:id="note-0336" next="#note-0337" place="foot" n="16)">Daher die feinen betrachtungen im eingange der Poetik über Empedokles<lb/> Sophron u. a. der dialog über die dichter hatte dieses breiter ausgeführt. da war<lb/> auch die herkunft des dialoges besprochen und zugegeben, daſs Platons rede in die<lb/> poesie überspielte. das hat Aristoteles als reifer mann nicht mehr gebilligt, denn</note>; es ist das seinen fortschreitenden<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0336]
I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
zutreten, sonst hätte er nicht die gattungen der poesie hinnehmen können,
wie sie eben geschichtlich, das heiſst mehr oder minder zufällig, für ihn
gegeben waren, und seine Poetik sogar nur auf die zur zeit gepflegten
dichtungsarten beschränken können. er hat den bedeutenden schritt
des überlegenen verstandes getan und die theorie des stiles, die Isokrates
für die prosa vollendet hatte, auf alle menschliche rede, also auch die
poesie ausgedehnt. er geht auch hier so vor, daſs er die dem dichter
praktisch gestellten aufgaben 15) und die vorhandenen lösungen derselben,
die poetische litteratur, zur grundlage nimmt; für ihre beurteilung hat
er, wie für alles menschliche ποιεῖν und πϱάττειν die richtigen ge-
sichtspunkte gefunden, er fragt nach ἔϱγον und ὄϱγανα, nach οὗ ἕνεκα
und δι̕ ὧν. gewiſs ist dabei etwas bedeutendes herausgekommen. allein
das spürt man auch noch in der Poetik, daſs ihn der stil, die grenzen
zwischen poesie und prosa und zwischen den einzelnen gattungen, zu-
erst überwiegend beschäftigt hatten 16); es ist das seinen fortschreitenden
15) Zu diesen gehörte das epos nicht mehr. indem Aristoteles den stoff
Homers, die sage, überhaupt verkannte, hat er vielleicht mit verschuldet, daſs
Alexander, weil er heroisches vollbrachte, einem epiker stoff zu schaffen wähnte.
aber er selbst ist doch durch Platon daran gewöhnt, epos und tragoedie wesentlich
zusammen zu behandeln. das epos ist Homer, der einzige unübertreffliche; das ist
etwas fertiges und liegt abgeschlossen vor. aber die tragoedie denkt er sich immer
noch gepflegt, und er kommt im letzten capitel der poetik dem buchdrama sehr
nahe. ich finde es durchaus recht, daſs der verständigste in Athen 360—30
so urteilte. aber wer selbst ein dichter war und das gefühl für das wirklich
lebenskräftige und lebenswürdige besaſs, sah auch hier, was dem verstande des
verständigen entgieng. Platon hat die ganze schar der tragischen eintagsfliegen
verachtet: er schrieb ja dialoge, weil das drama in versen 406 gestorben war. aber
er beachtete in Antimachos den ionischen an sich schwerlich irgendwie erfreulichen
neuerer, der die an farben und duft gleich prächtige episch-elegische poesie des
Hellenismus vorbereitete. wenn die poesie nun einmal buchpoesie werden muſste,
und sie muſs es unter complicirten culturbedingungen immer werden, so gebührten
ihr die formen der erzählenden poesie, wie sie in voller freiheit (als μεικτὸν γένος
nach späterer terminologie) Ionien bereits ausgebildet hatte: sie muſsten nur durch
die höchste bewuſste kunst in sprache und versbau der neuen cultur angepaſst
werden, und sie durften weder homerisch noch athenisch sein. der Athener Platon
ist groſs genug gewesen, auch das zu würdigen. er hat auch den Parmenides trotz
seinen schlechten versen und den halbitaliker Sophron gewürdigt. dagegen für
den trotz allem künsteln eigner kraft entbehrenden Empedokles hat Aristoteles eben
wegen der einzelnen künste eine vorliebe, die Platon nicht teilt.
16) Daher die feinen betrachtungen im eingange der Poetik über Empedokles
Sophron u. a. der dialog über die dichter hatte dieses breiter ausgeführt. da war
auch die herkunft des dialoges besprochen und zugegeben, daſs Platons rede in die
poesie überspielte. das hat Aristoteles als reifer mann nicht mehr gebilligt, denn
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