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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
scheinbare einfachheit und schmucklosigkeit wirkt, ungleich geniessbarer
als die aufdringliche pracht des Isokrates. aber weil sie fester regeln
und strenger technik entbehrt, hat Aristoteles sich wenig für sie in-
teressirt. inhaltlich konnte sie ihm überhaupt nichts bieten. die ko-
moedie, die er als junger mann spielen sah, war nicht mehr die gross-
artig phantastische des Aristophanes und war noch nicht das bürgerliche
lustspiel, das vielmehr erst durch die scharfe menschen- und charakter-
beobachtung, die er selbst lehren sollte, zu seiner vollen entfaltung ge-
langt ist. wer dem Menandros den weg geebnet hat wird für Aristo-
phanes wenig neigung besessen haben. so ist es. Aristoteles fand an
den grobianischen spässen gar kein gefallen, und das leichtfertige spiel
der phantasie, das seine glänzendsten erfindungen plötzlich irgend einem
andern einfalle preis gibt, das weder eine handlung noch einen charakter
durchzuführen sich bemüht, das mit voller virtuosität die verschiedensten
töne anschlägt, aber keinen eigenen besitzt, es sei denn die ächt attische
kharis, die freilich über allem schwebt: das alles bildete zwar für Platon
trotz seiner asketischen moral den gegenstand vollster bewunderung,
aber Aristoteles, verfügend über den feinen witz des mannes von welt,
war zwar für die einzelne glückliche situation oder das einzelne witz-
wort empfänglich: im ganzen vermisst er eben den stil, und so hat er
mehr wie Isokrates denn wie Platon zur alten komoedie gestanden. die
reste seiner theoretischen betrachtung geben sehr vieles über das lächer-
liche, aber gar nichts über die komoedie als ganzes, und schwerlich
liegt das bloss an der unfähigkeit der excerptoren.18) wir aber dürfen
wol sagen, dass wer in der alten komoedie bloss zoten und possen,
zuweilen eine gelungene situationskomik und viele glückliche worte an-
erkennt, aber ihre persönliche polemik als iambike idea ganz verwirft
und dafür ganz unempfänglich ist, dass dieser zauberspiegel das glän-
zende bild einer grossen zeit und eines ganzen volkslebens fest gehalten
hat, auch für diese zeit und ihr volksleben kein verständniss besessen
haben kann.

18) Bernays hat aus dem späten traktate das aristotelische zwar sehr schön
herausgeschält, allein es wird nicht klar, wie der excerptor dazu gekommen ist, die
definition der komoedie und vieles andere zu schwindeln, wenn er das ächt aristo-
telische eben da finden konnte, wo er die behandlung des geloion hernahm. der
standpunkt, dass aristotelisch und weise und wahr so ziemlich identisch wäre,
kann nicht wol der richtige sein. die spätere kunstlehre, die Bernays (Zwei Ab-
handlungen 146 anm.) viel zu gering schätzt (vgl. Usener, ein altes lehrgebäude der
philologie 620), bedarf dringend einer behandlung.

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
scheinbare einfachheit und schmucklosigkeit wirkt, ungleich genieſsbarer
als die aufdringliche pracht des Isokrates. aber weil sie fester regeln
und strenger technik entbehrt, hat Aristoteles sich wenig für sie in-
teressirt. inhaltlich konnte sie ihm überhaupt nichts bieten. die ko-
moedie, die er als junger mann spielen sah, war nicht mehr die groſs-
artig phantastische des Aristophanes und war noch nicht das bürgerliche
lustspiel, das vielmehr erst durch die scharfe menschen- und charakter-
beobachtung, die er selbst lehren sollte, zu seiner vollen entfaltung ge-
langt ist. wer dem Menandros den weg geebnet hat wird für Aristo-
phanes wenig neigung besessen haben. so ist es. Aristoteles fand an
den grobianischen späſsen gar kein gefallen, und das leichtfertige spiel
der phantasie, das seine glänzendsten erfindungen plötzlich irgend einem
andern einfalle preis gibt, das weder eine handlung noch einen charakter
durchzuführen sich bemüht, das mit voller virtuosität die verschiedensten
töne anschlägt, aber keinen eigenen besitzt, es sei denn die ächt attische
χάϱις, die freilich über allem schwebt: das alles bildete zwar für Platon
trotz seiner asketischen moral den gegenstand vollster bewunderung,
aber Aristoteles, verfügend über den feinen witz des mannes von welt,
war zwar für die einzelne glückliche situation oder das einzelne witz-
wort empfänglich: im ganzen vermiſst er eben den stil, und so hat er
mehr wie Isokrates denn wie Platon zur alten komoedie gestanden. die
reste seiner theoretischen betrachtung geben sehr vieles über das lächer-
liche, aber gar nichts über die komoedie als ganzes, und schwerlich
liegt das bloſs an der unfähigkeit der excerptoren.18) wir aber dürfen
wol sagen, daſs wer in der alten komoedie bloſs zoten und possen,
zuweilen eine gelungene situationskomik und viele glückliche worte an-
erkennt, aber ihre persönliche polemik als ἰαμβικὴ ἰδέα ganz verwirft
und dafür ganz unempfänglich ist, daſs dieser zauberspiegel das glän-
zende bild einer groſsen zeit und eines ganzen volkslebens fest gehalten
hat, auch für diese zeit und ihr volksleben kein verständniſs besessen
haben kann.

18) Bernays hat aus dem späten traktate das aristotelische zwar sehr schön
herausgeschält, allein es wird nicht klar, wie der excerptor dazu gekommen ist, die
definition der komoedie und vieles andere zu schwindeln, wenn er das ächt aristo-
telische eben da finden konnte, wo er die behandlung des γελοῖον hernahm. der
standpunkt, daſs aristotelisch und weise und wahr so ziemlich identisch wäre,
kann nicht wol der richtige sein. die spätere kunstlehre, die Bernays (Zwei Ab-
handlungen 146 anm.) viel zu gering schätzt (vgl. Usener, ein altes lehrgebäude der
philologie 620), bedarf dringend einer behandlung.
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[324/0338] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. scheinbare einfachheit und schmucklosigkeit wirkt, ungleich genieſsbarer als die aufdringliche pracht des Isokrates. aber weil sie fester regeln und strenger technik entbehrt, hat Aristoteles sich wenig für sie in- teressirt. inhaltlich konnte sie ihm überhaupt nichts bieten. die ko- moedie, die er als junger mann spielen sah, war nicht mehr die groſs- artig phantastische des Aristophanes und war noch nicht das bürgerliche lustspiel, das vielmehr erst durch die scharfe menschen- und charakter- beobachtung, die er selbst lehren sollte, zu seiner vollen entfaltung ge- langt ist. wer dem Menandros den weg geebnet hat wird für Aristo- phanes wenig neigung besessen haben. so ist es. Aristoteles fand an den grobianischen späſsen gar kein gefallen, und das leichtfertige spiel der phantasie, das seine glänzendsten erfindungen plötzlich irgend einem andern einfalle preis gibt, das weder eine handlung noch einen charakter durchzuführen sich bemüht, das mit voller virtuosität die verschiedensten töne anschlägt, aber keinen eigenen besitzt, es sei denn die ächt attische χάϱις, die freilich über allem schwebt: das alles bildete zwar für Platon trotz seiner asketischen moral den gegenstand vollster bewunderung, aber Aristoteles, verfügend über den feinen witz des mannes von welt, war zwar für die einzelne glückliche situation oder das einzelne witz- wort empfänglich: im ganzen vermiſst er eben den stil, und so hat er mehr wie Isokrates denn wie Platon zur alten komoedie gestanden. die reste seiner theoretischen betrachtung geben sehr vieles über das lächer- liche, aber gar nichts über die komoedie als ganzes, und schwerlich liegt das bloſs an der unfähigkeit der excerptoren. 18) wir aber dürfen wol sagen, daſs wer in der alten komoedie bloſs zoten und possen, zuweilen eine gelungene situationskomik und viele glückliche worte an- erkennt, aber ihre persönliche polemik als ἰαμβικὴ ἰδέα ganz verwirft und dafür ganz unempfänglich ist, daſs dieser zauberspiegel das glän- zende bild einer groſsen zeit und eines ganzen volkslebens fest gehalten hat, auch für diese zeit und ihr volksleben kein verständniſs besessen haben kann. 18) Bernays hat aus dem späten traktate das aristotelische zwar sehr schön herausgeschält, allein es wird nicht klar, wie der excerptor dazu gekommen ist, die definition der komoedie und vieles andere zu schwindeln, wenn er das ächt aristo- telische eben da finden konnte, wo er die behandlung des γελοῖον hernahm. der standpunkt, daſs aristotelisch und weise und wahr so ziemlich identisch wäre, kann nicht wol der richtige sein. die spätere kunstlehre, die Bernays (Zwei Ab- handlungen 146 anm.) viel zu gering schätzt (vgl. Usener, ein altes lehrgebäude der philologie 620), bedarf dringend einer behandlung.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/338>, abgerufen am 23.11.2024.