Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.Der schluss der Ethik. die erst Theophrast vollendet hat; aber für die wissenschaftliche arbeitist die schlussredaction und veröffentlichung von geringer bedeutung. sodann warnt Aristoteles davor, dass diese materialien an sich schon genügten um das politische urteil zur reife zu bringen, also vor einer überschätzung ihres wertes; aber er meint mit diesem zugeständnisse seiner autorenbescheidenheit sicherlich so viel, dass sie allerdings geeig- net wären, dem wissenschaftlich, d. i. philosophisch gebildeten zu einem solchen urteile zu verhelfen, wenn er das in ihnen implicite enthaltene sich nur selbst zu entwickeln vermöge. mit nichten als geschichtliches material, sondern als substrat der politischen speculation mit wesentlich prak- tischer tendenz hat er seine Politien verfasst: er hat also anspruch darauf, sie dem entsprechend beurteilt zu sehen. er hat aber diese grosse arbeit aufgewandt, um das inductive material für seine politische theorie zu gewinnen, oder vielmehr (denn diese theorie stand ihm ja vorher fest, und sie war nichts absolut neues) um seine schüler zu nomothetikoi zu machen, sie zu befähigen, in dem praktisch politischen leben die ge- eigneten massnahmen zu treffen, auf dass die lehren der Ethik über tugend und glückseligkeit in die leibhafte erscheinung übergeführt würden. mit andern worten, er wollte ein geschlecht heranziehen, das unter den tausendfach verschiedenen bedingungen, welche die helle- nischen staaten boten, durch die wissenschaftliche einsicht in das wesen, die aufgabe und die erscheinungsformen des staates befähigt wäre, im rechten sinne praktisch zu wirken. wer das leistete, eben in einer zeit des politischen umschwunges, der erfüllte was die sophistik hundert jahre vorher trügerisch und vergeblich versprochen hatte. daran hat Aristoteles seine kraft gesetzt, und er dachte nicht gering von seiner leistung. er sah dies als etwas vollkommen neues an, denn er machte gegen politiker und sophisten front, nicht gegen Platon, von dem sein bester staat doch gänzlich abhieng. wir werden nicht bestreiten dürfen, dass er seine originalität sehr weit überschätzt hat 55), aber da er sich eben erst von der speculation über den staat des wunsches mühselig auf den boden der realität und geschichte selbst den rückweg erarbeitet hatte, steht ihm subjectiv diese selbstüberschätzung an. als ergänzung zu Platon preisen 55) Wie überaus stark Platons schriften auf alle teile seines politischen denkens
gewirkt haben, auch in stücken, die gemeiniglich für specifisch aristotelisch gelten, zeigt in ziemlich befriedigender weise die von Teichmüller angeregte Dorpater dissertation von Lutoslavski, 'Einteilung und untergang der staatsverfassungen nach Plato, Aristoteles und Macchiavelli'. es liesse sich das, namentlich was den Politikos angeht, noch viel weiter ausdehnen. Der schluſs der Ethik. die erst Theophrast vollendet hat; aber für die wissenschaftliche arbeitist die schluſsredaction und veröffentlichung von geringer bedeutung. sodann warnt Aristoteles davor, daſs diese materialien an sich schon genügten um das politische urteil zur reife zu bringen, also vor einer überschätzung ihres wertes; aber er meint mit diesem zugeständnisse seiner autorenbescheidenheit sicherlich so viel, daſs sie allerdings geeig- net wären, dem wissenschaftlich, d. i. philosophisch gebildeten zu einem solchen urteile zu verhelfen, wenn er das in ihnen implicite enthaltene sich nur selbst zu entwickeln vermöge. mit nichten als geschichtliches material, sondern als substrat der politischen speculation mit wesentlich prak- tischer tendenz hat er seine Politien verfaſst: er hat also anspruch darauf, sie dem entsprechend beurteilt zu sehen. er hat aber diese groſse arbeit aufgewandt, um das inductive material für seine politische theorie zu gewinnen, oder vielmehr (denn diese theorie stand ihm ja vorher fest, und sie war nichts absolut neues) um seine schüler zu νομοϑετικοί zu machen, sie zu befähigen, in dem praktisch politischen leben die ge- eigneten maſsnahmen zu treffen, auf daſs die lehren der Ethik über tugend und glückseligkeit in die leibhafte erscheinung übergeführt würden. mit andern worten, er wollte ein geschlecht heranziehen, das unter den tausendfach verschiedenen bedingungen, welche die helle- nischen staaten boten, durch die wissenschaftliche einsicht in das wesen, die aufgabe und die erscheinungsformen des staates befähigt wäre, im rechten sinne praktisch zu wirken. wer das leistete, eben in einer zeit des politischen umschwunges, der erfüllte was die sophistik hundert jahre vorher trügerisch und vergeblich versprochen hatte. daran hat Aristoteles seine kraft gesetzt, und er dachte nicht gering von seiner leistung. er sah dies als etwas vollkommen neues an, denn er machte gegen politiker und sophisten front, nicht gegen Platon, von dem sein bester staat doch gänzlich abhieng. wir werden nicht bestreiten dürfen, daſs er seine originalität sehr weit überschätzt hat 55), aber da er sich eben erst von der speculation über den staat des wunsches mühselig auf den boden der realität und geschichte selbst den rückweg erarbeitet hatte, steht ihm subjectiv diese selbstüberschätzung an. als ergänzung zu Platon preisen 55) Wie überaus stark Platons schriften auf alle teile seines politischen denkens
gewirkt haben, auch in stücken, die gemeiniglich für specifisch aristotelisch gelten, zeigt in ziemlich befriedigender weise die von Teichmüller angeregte Dorpater dissertation von Lutoslavski, ‘Einteilung und untergang der staatsverfassungen nach Plato, Aristoteles und Macchiavelli’. es lieſse sich das, namentlich was den Politikos angeht, noch viel weiter ausdehnen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0375" n="361"/><fw place="top" type="header">Der schluſs der Ethik.</fw><lb/> die erst Theophrast vollendet hat; aber für die wissenschaftliche arbeit<lb/> ist die schluſsredaction und veröffentlichung von geringer bedeutung.<lb/> sodann warnt Aristoteles davor, daſs diese materialien an sich schon<lb/> genügten um das politische urteil zur reife zu bringen, also vor einer<lb/> überschätzung ihres wertes; aber er meint mit diesem zugeständnisse<lb/> seiner autorenbescheidenheit sicherlich so viel, daſs sie allerdings geeig-<lb/> net wären, dem wissenschaftlich, d. i. philosophisch gebildeten zu einem<lb/> solchen urteile zu verhelfen, wenn er das in ihnen implicite enthaltene sich<lb/> nur selbst zu entwickeln vermöge. mit nichten als geschichtliches material,<lb/> sondern als substrat der politischen speculation mit wesentlich prak-<lb/> tischer tendenz hat er seine Politien verfaſst: er hat also anspruch darauf,<lb/> sie dem entsprechend beurteilt zu sehen. er hat aber diese groſse arbeit<lb/> aufgewandt, um das inductive material für seine politische theorie zu<lb/> gewinnen, oder vielmehr (denn diese theorie stand ihm ja vorher fest,<lb/> und sie war nichts absolut neues) um seine schüler zu νομοϑετικοί zu<lb/> machen, sie zu befähigen, in dem praktisch politischen leben die ge-<lb/> eigneten maſsnahmen zu treffen, auf daſs die lehren der Ethik über<lb/> tugend und glückseligkeit in die leibhafte erscheinung übergeführt<lb/> würden. mit andern worten, er wollte ein geschlecht heranziehen,<lb/> das unter den tausendfach verschiedenen bedingungen, welche die helle-<lb/> nischen staaten boten, durch die wissenschaftliche einsicht in das wesen,<lb/> die aufgabe und die erscheinungsformen des staates befähigt wäre, im<lb/> rechten sinne praktisch zu wirken. wer das leistete, eben in einer zeit<lb/> des politischen umschwunges, der erfüllte was die sophistik hundert<lb/> jahre vorher trügerisch und vergeblich versprochen hatte. daran hat<lb/> Aristoteles seine kraft gesetzt, und er dachte nicht gering von seiner<lb/> leistung. er sah dies als etwas vollkommen neues an, denn er machte<lb/> gegen politiker und sophisten front, nicht gegen Platon, von dem sein bester<lb/> staat doch gänzlich abhieng. wir werden nicht bestreiten dürfen, daſs<lb/> er seine originalität sehr weit überschätzt hat <note place="foot" n="55)">Wie überaus stark Platons schriften auf alle teile seines politischen denkens<lb/> gewirkt haben, auch in stücken, die gemeiniglich für specifisch aristotelisch gelten,<lb/> zeigt in ziemlich befriedigender weise die von Teichmüller angeregte Dorpater<lb/> dissertation von Lutoslavski, ‘Einteilung und untergang der staatsverfassungen nach<lb/> Plato, Aristoteles und Macchiavelli’. es lieſse sich das, namentlich was den Politikos<lb/> angeht, noch viel weiter ausdehnen.</note>, aber da er sich eben erst<lb/> von der speculation über den staat des wunsches mühselig auf den boden<lb/> der realität und geschichte selbst den rückweg erarbeitet hatte, steht<lb/> ihm subjectiv diese selbstüberschätzung an. als ergänzung zu Platon preisen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [361/0375]
Der schluſs der Ethik.
die erst Theophrast vollendet hat; aber für die wissenschaftliche arbeit
ist die schluſsredaction und veröffentlichung von geringer bedeutung.
sodann warnt Aristoteles davor, daſs diese materialien an sich schon
genügten um das politische urteil zur reife zu bringen, also vor einer
überschätzung ihres wertes; aber er meint mit diesem zugeständnisse
seiner autorenbescheidenheit sicherlich so viel, daſs sie allerdings geeig-
net wären, dem wissenschaftlich, d. i. philosophisch gebildeten zu einem
solchen urteile zu verhelfen, wenn er das in ihnen implicite enthaltene sich
nur selbst zu entwickeln vermöge. mit nichten als geschichtliches material,
sondern als substrat der politischen speculation mit wesentlich prak-
tischer tendenz hat er seine Politien verfaſst: er hat also anspruch darauf,
sie dem entsprechend beurteilt zu sehen. er hat aber diese groſse arbeit
aufgewandt, um das inductive material für seine politische theorie zu
gewinnen, oder vielmehr (denn diese theorie stand ihm ja vorher fest,
und sie war nichts absolut neues) um seine schüler zu νομοϑετικοί zu
machen, sie zu befähigen, in dem praktisch politischen leben die ge-
eigneten maſsnahmen zu treffen, auf daſs die lehren der Ethik über
tugend und glückseligkeit in die leibhafte erscheinung übergeführt
würden. mit andern worten, er wollte ein geschlecht heranziehen,
das unter den tausendfach verschiedenen bedingungen, welche die helle-
nischen staaten boten, durch die wissenschaftliche einsicht in das wesen,
die aufgabe und die erscheinungsformen des staates befähigt wäre, im
rechten sinne praktisch zu wirken. wer das leistete, eben in einer zeit
des politischen umschwunges, der erfüllte was die sophistik hundert
jahre vorher trügerisch und vergeblich versprochen hatte. daran hat
Aristoteles seine kraft gesetzt, und er dachte nicht gering von seiner
leistung. er sah dies als etwas vollkommen neues an, denn er machte
gegen politiker und sophisten front, nicht gegen Platon, von dem sein bester
staat doch gänzlich abhieng. wir werden nicht bestreiten dürfen, daſs
er seine originalität sehr weit überschätzt hat 55), aber da er sich eben erst
von der speculation über den staat des wunsches mühselig auf den boden
der realität und geschichte selbst den rückweg erarbeitet hatte, steht
ihm subjectiv diese selbstüberschätzung an. als ergänzung zu Platon preisen
55) Wie überaus stark Platons schriften auf alle teile seines politischen denkens
gewirkt haben, auch in stücken, die gemeiniglich für specifisch aristotelisch gelten,
zeigt in ziemlich befriedigender weise die von Teichmüller angeregte Dorpater
dissertation von Lutoslavski, ‘Einteilung und untergang der staatsverfassungen nach
Plato, Aristoteles und Macchiavelli’. es lieſse sich das, namentlich was den Politikos
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