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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 3. Solon.
das passive wahlrecht der begüterten, hat er bereits vorgefunden; die
kommen also für seine beurteilung auch nicht in betracht. auch das active
wahlrecht des volkes ist keine neuerung von ihm: es blieb also nur to tas
arkhas euthunein, die controlle der beamten (die durch ein gericht erfolgt),
wie es an der einen stelle, die aus allen bürgern erlosten richter, wie es
umfassender an der andern heisst. damit erfüllte Solon eine unabweisbare
forderung des volkes, aber die volksgerichte, durch die er sie erfüllte, haben
tatsächlich alle übrigen institutionen sich dienstbar gemacht und zu der
jetzigen demokratie geführt, einer positiv schlechten verfassung. wenn
das wider Solons absicht geschehn ist, so entlastet das den weisen und
wolwollenden mann moralisch: aber er kann dann unmöglich ein ge-
setzgeber sein, bei dem ein politischer theoretiker viel lernen kann. seine
verfassung, die "patrios politeia", mag das lob einer guten mischung
verschiedner elemente immerhin verdienen, auch wenn er selbst ihr diese
elemente nicht erst zugeführt hat. aber diese verfassung ist es nicht,
die die menschen meinen, welche Solons lob singen; sie kann überhaupt
nur durch historische forschung nach wahrscheinlichkeit festgestellt werden,
und fällt schon deshalb fort, weil sie controvers ist. rund heraus würde
Aristoteles zu seinen zuhörern etwa so haben sprechen können. "Ihr
erwartet hier nun eine kritik der verfassung, unter der wir leben, der
solonischen. es tut mir leid, aber sie gehört nicht her. die jetzt in
Athen bestehende demokratie meine ich ja immer, wenn ich von der
typischen 'demokratie' rede, und wir wissen alle, dass sie schlecht ist.
nun tut man Solon freilich schweres unrecht, wenn man ihn als ihren
stifter ansieht: er hat so etwas wahrlich nicht beabsichtigt. aber eine
folge, wenn auch eine unbeabsichtigte, seiner schöpfung, der volks-
gerichte, ist sie allerdings, und schon deshalb kann seine wirkliche ver-
fassung auch nicht schlechthin gut gewesen sein. übrigens war er gar
kein schöpferischer organisator auf dem politischen gebiete, und sein
werk als ganzes hat auch nur eine ganz kurze zeit bestand gehabt.
also gehört weder er noch sein werk, wie es wirklich war, noch wie es
umgestaltet jetzt besteht, hierher. festhalten wollen wir nur das liebens-
würdige bild des weisen Solon, das in seinen gedichten vor uns steht,
und das wollen wir uns durch keine masslosigkeit in bewunderung oder
verunglimpfung trüben lassen. er war ein einziger mann: noch keiner
hat es ihm nachgetan, die macht, die er in den händen hatte, lediglich
zum vorteil des ganzen, zu einer verfassung zu verwenden, die die
rechte mitte zwischen demokratie und aristokratie hielt. 42) und wenn

42) Dieses in dem munde des verehrers der mittelstrasse besonders hohe lob

I. 3. Solon.
das passive wahlrecht der begüterten, hat er bereits vorgefunden; die
kommen also für seine beurteilung auch nicht in betracht. auch das active
wahlrecht des volkes ist keine neuerung von ihm: es blieb also nur τὸ τὰς
ἀϱχὰς εὐϑύνειν, die controlle der beamten (die durch ein gericht erfolgt),
wie es an der einen stelle, die aus allen bürgern erlosten richter, wie es
umfassender an der andern heiſst. damit erfüllte Solon eine unabweisbare
forderung des volkes, aber die volksgerichte, durch die er sie erfüllte, haben
tatsächlich alle übrigen institutionen sich dienstbar gemacht und zu der
jetzigen demokratie geführt, einer positiv schlechten verfassung. wenn
das wider Solons absicht geschehn ist, so entlastet das den weisen und
wolwollenden mann moralisch: aber er kann dann unmöglich ein ge-
setzgeber sein, bei dem ein politischer theoretiker viel lernen kann. seine
verfassung, die “πάτϱιος πολιτεία”, mag das lob einer guten mischung
verschiedner elemente immerhin verdienen, auch wenn er selbst ihr diese
elemente nicht erst zugeführt hat. aber diese verfassung ist es nicht,
die die menschen meinen, welche Solons lob singen; sie kann überhaupt
nur durch historische forschung nach wahrscheinlichkeit festgestellt werden,
und fällt schon deshalb fort, weil sie controvers ist. rund heraus würde
Aristoteles zu seinen zuhörern etwa so haben sprechen können. “Ihr
erwartet hier nun eine kritik der verfassung, unter der wir leben, der
solonischen. es tut mir leid, aber sie gehört nicht her. die jetzt in
Athen bestehende demokratie meine ich ja immer, wenn ich von der
typischen ‘demokratie’ rede, und wir wissen alle, daſs sie schlecht ist.
nun tut man Solon freilich schweres unrecht, wenn man ihn als ihren
stifter ansieht: er hat so etwas wahrlich nicht beabsichtigt. aber eine
folge, wenn auch eine unbeabsichtigte, seiner schöpfung, der volks-
gerichte, ist sie allerdings, und schon deshalb kann seine wirkliche ver-
fassung auch nicht schlechthin gut gewesen sein. übrigens war er gar
kein schöpferischer organisator auf dem politischen gebiete, und sein
werk als ganzes hat auch nur eine ganz kurze zeit bestand gehabt.
also gehört weder er noch sein werk, wie es wirklich war, noch wie es
umgestaltet jetzt besteht, hierher. festhalten wollen wir nur das liebens-
würdige bild des weisen Solon, das in seinen gedichten vor uns steht,
und das wollen wir uns durch keine maſslosigkeit in bewunderung oder
verunglimpfung trüben lassen. er war ein einziger mann: noch keiner
hat es ihm nachgetan, die macht, die er in den händen hatte, lediglich
zum vorteil des ganzen, zu einer verfassung zu verwenden, die die
rechte mitte zwischen demokratie und aristokratie hielt. 42) und wenn

42) Dieses in dem munde des verehrers der mittelstraſse besonders hohe lob
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[70/0084] I. 3. Solon. das passive wahlrecht der begüterten, hat er bereits vorgefunden; die kommen also für seine beurteilung auch nicht in betracht. auch das active wahlrecht des volkes ist keine neuerung von ihm: es blieb also nur τὸ τὰς ἀϱχὰς εὐϑύνειν, die controlle der beamten (die durch ein gericht erfolgt), wie es an der einen stelle, die aus allen bürgern erlosten richter, wie es umfassender an der andern heiſst. damit erfüllte Solon eine unabweisbare forderung des volkes, aber die volksgerichte, durch die er sie erfüllte, haben tatsächlich alle übrigen institutionen sich dienstbar gemacht und zu der jetzigen demokratie geführt, einer positiv schlechten verfassung. wenn das wider Solons absicht geschehn ist, so entlastet das den weisen und wolwollenden mann moralisch: aber er kann dann unmöglich ein ge- setzgeber sein, bei dem ein politischer theoretiker viel lernen kann. seine verfassung, die “πάτϱιος πολιτεία”, mag das lob einer guten mischung verschiedner elemente immerhin verdienen, auch wenn er selbst ihr diese elemente nicht erst zugeführt hat. aber diese verfassung ist es nicht, die die menschen meinen, welche Solons lob singen; sie kann überhaupt nur durch historische forschung nach wahrscheinlichkeit festgestellt werden, und fällt schon deshalb fort, weil sie controvers ist. rund heraus würde Aristoteles zu seinen zuhörern etwa so haben sprechen können. “Ihr erwartet hier nun eine kritik der verfassung, unter der wir leben, der solonischen. es tut mir leid, aber sie gehört nicht her. die jetzt in Athen bestehende demokratie meine ich ja immer, wenn ich von der typischen ‘demokratie’ rede, und wir wissen alle, daſs sie schlecht ist. nun tut man Solon freilich schweres unrecht, wenn man ihn als ihren stifter ansieht: er hat so etwas wahrlich nicht beabsichtigt. aber eine folge, wenn auch eine unbeabsichtigte, seiner schöpfung, der volks- gerichte, ist sie allerdings, und schon deshalb kann seine wirkliche ver- fassung auch nicht schlechthin gut gewesen sein. übrigens war er gar kein schöpferischer organisator auf dem politischen gebiete, und sein werk als ganzes hat auch nur eine ganz kurze zeit bestand gehabt. also gehört weder er noch sein werk, wie es wirklich war, noch wie es umgestaltet jetzt besteht, hierher. festhalten wollen wir nur das liebens- würdige bild des weisen Solon, das in seinen gedichten vor uns steht, und das wollen wir uns durch keine maſslosigkeit in bewunderung oder verunglimpfung trüben lassen. er war ein einziger mann: noch keiner hat es ihm nachgetan, die macht, die er in den händen hatte, lediglich zum vorteil des ganzen, zu einer verfassung zu verwenden, die die rechte mitte zwischen demokratie und aristokratie hielt. 42) und wenn 42) Dieses in dem munde des verehrers der mittelstraſse besonders hohe lob

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/84>, abgerufen am 21.11.2024.