Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.II. 4. Patrios politeia. er nur wollte, jahraus jahrein erscheinen, zuhören und reden, schonzehn jahre lang, ehe er beamter ratsherr und richter werden konnte. das volk wählte auch gar nicht selten direct commissionen, selbst für so wichtige dinge wie die ausarbeitung von gesetzen, die gesandten, die vertreter des fiscus vor gericht4): da kamen also leute hinein ohne die beschränkungen aller art, denen die beamten unterlagen, nicht auf präsen- tation durch die phylen oder gemeinden, sondern als vertrauensmänner des volkes, der ekklesia. die ekklesia war berechtigt, sich als der souve- rän zu fühlen, sie sollte im gegensatze zu den abteilungen des volkes das ganze, im gegensatze zu den wechselnden beamten die dauer und stetig- keit des regiments vertreten. und wirklich, es fanden sich ständige besucher, das gros der abstimmenden, und es bildeten sich berufsmässige parlamentarier, die Retores, die aus der versammlung das wort ergriffen. dass diese leute die geschäftsordnung und die regelmässigen geschäfte und die künste der debatte sehr bald besser als das präsidium begriffen, dass sie auch wirklich sehr oft über einsicht und erfahrung verfügten, die den beamten und selbst dem rate abgiengen, ist natürlich. wer sich als ratsherr oder schatzmeister etwa in die finanzen oder einen teil derselben hineingearbeitet hatte, konnte seine erfahrung später nur als redner geltend machen; aber es trat in diesen unverantwortlichen5) rednern ein nicht bloss fremdes, sondern gefährliches element in den verfassungsmässigen organismus des staates ein. die redner übten kritik an den vorlagen des rates und der strategen, ohne doch selbst in den ge- schäften zu stehn, gaben ihnen den befehl es so oder so zu machen, ohne doch zu der ausführung selbst hand anzulegen. sie hatten das ohr des sou- veräns, ohne doch für das einstehn zu müssen, wozu sie ihn bestimmten. der souverän selbst aber ward tatsächlich in sehr vielen sitzungen durch die habitues der ekklesia repräsentirt, die leute, die zeit und lust hatten, auf die pnyx zu gehn. es konnte gar nicht anders sein, als dass das die leute aus der stadt und ihrer nächsten umgebung waren, und dass die besten vertreter des demos, die bauern, die kaufleute, die industriellen unter- 4) Aristophanes wird nicht müde über diese bevorzugungen zu schelten; dass sie zu den gesandtschaften nicht herankommen wie Pyrilampes, Diotimos, Morychos ärgert die Acharner am meisten; auch ein xuggrapheus, Antimachos, wird als solcher angegriffen, und die noch dazu gut bezahlten sunegoroi machen den Philokleon an der herrlichkeit seines heliastentumes irre. 5) Von den auf die redner besonders gemünzten gesetzlichen bestimmungen,
die in der demosthenischen zeit auch mehr beredet als beachtet werden, ist im fünften jahrhundert nicht einmal die rede. II. 4. Πάτϱιος πολιτεία. er nur wollte, jahraus jahrein erscheinen, zuhören und reden, schonzehn jahre lang, ehe er beamter ratsherr und richter werden konnte. das volk wählte auch gar nicht selten direct commissionen, selbst für so wichtige dinge wie die ausarbeitung von gesetzen, die gesandten, die vertreter des fiscus vor gericht4): da kamen also leute hinein ohne die beschränkungen aller art, denen die beamten unterlagen, nicht auf präsen- tation durch die phylen oder gemeinden, sondern als vertrauensmänner des volkes, der ekklesia. die ekklesia war berechtigt, sich als der souve- rän zu fühlen, sie sollte im gegensatze zu den abteilungen des volkes das ganze, im gegensatze zu den wechselnden beamten die dauer und stetig- keit des regiments vertreten. und wirklich, es fanden sich ständige besucher, das gros der abstimmenden, und es bildeten sich berufsmäſsige parlamentarier, die ῥήτοϱες, die aus der versammlung das wort ergriffen. daſs diese leute die geschäftsordnung und die regelmäſsigen geschäfte und die künste der debatte sehr bald besser als das präsidium begriffen, daſs sie auch wirklich sehr oft über einsicht und erfahrung verfügten, die den beamten und selbst dem rate abgiengen, ist natürlich. wer sich als ratsherr oder schatzmeister etwa in die finanzen oder einen teil derselben hineingearbeitet hatte, konnte seine erfahrung später nur als redner geltend machen; aber es trat in diesen unverantwortlichen5) rednern ein nicht bloſs fremdes, sondern gefährliches element in den verfassungsmäſsigen organismus des staates ein. die redner übten kritik an den vorlagen des rates und der strategen, ohne doch selbst in den ge- schäften zu stehn, gaben ihnen den befehl es so oder so zu machen, ohne doch zu der ausführung selbst hand anzulegen. sie hatten das ohr des sou- veräns, ohne doch für das einstehn zu müssen, wozu sie ihn bestimmten. der souverän selbst aber ward tatsächlich in sehr vielen sitzungen durch die habitués der ekklesia repräsentirt, die leute, die zeit und lust hatten, auf die pnyx zu gehn. es konnte gar nicht anders sein, als daſs das die leute aus der stadt und ihrer nächsten umgebung waren, und daſs die besten vertreter des demos, die bauern, die kaufleute, die industriellen unter- 4) Aristophanes wird nicht müde über diese bevorzugungen zu schelten; daſs sie zu den gesandtschaften nicht herankommen wie Pyrilampes, Diotimos, Morychos ärgert die Acharner am meisten; auch ein ξυγγϱαφεύς, Antimachos, wird als solcher angegriffen, und die noch dazu gut bezahlten συνήγοϱοι machen den Philokleon an der herrlichkeit seines heliastentumes irre. 5) Von den auf die redner besonders gemünzten gesetzlichen bestimmungen,
die in der demosthenischen zeit auch mehr beredet als beachtet werden, ist im fünften jahrhundert nicht einmal die rede. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0120" n="110"/><fw place="top" type="header">II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.</fw><lb/> er nur wollte, jahraus jahrein erscheinen, zuhören und reden, schon<lb/> zehn jahre lang, ehe er beamter ratsherr und richter werden konnte.<lb/> das volk wählte auch gar nicht selten direct commissionen, selbst für<lb/> so wichtige dinge wie die ausarbeitung von gesetzen, die gesandten, die<lb/> vertreter des fiscus vor gericht<note place="foot" n="4)">Aristophanes wird nicht müde über diese bevorzugungen zu schelten; daſs<lb/> sie zu den gesandtschaften nicht herankommen wie Pyrilampes, Diotimos, Morychos<lb/> ärgert die Acharner am meisten; auch ein ξυγγϱαφεύς, Antimachos, wird als solcher<lb/> angegriffen, und die noch dazu gut bezahlten συνήγοϱοι machen den Philokleon an<lb/> der herrlichkeit seines heliastentumes irre.</note>: da kamen also leute hinein ohne die<lb/> beschränkungen aller art, denen die beamten unterlagen, nicht auf präsen-<lb/> tation durch die phylen oder gemeinden, sondern als vertrauensmänner des<lb/> volkes, der ekklesia. die ekklesia war berechtigt, sich als der souve-<lb/> rän zu fühlen, sie sollte im gegensatze zu den abteilungen des volkes das<lb/> ganze, im gegensatze zu den wechselnden beamten die dauer und stetig-<lb/> keit des regiments vertreten. und wirklich, es fanden sich ständige<lb/> besucher, das gros der abstimmenden, und es bildeten sich berufsmäſsige<lb/> parlamentarier, die ῥήτοϱες, die aus der versammlung das wort ergriffen.<lb/> daſs diese leute die geschäftsordnung und die regelmäſsigen geschäfte<lb/> und die künste der debatte sehr bald besser als das präsidium begriffen,<lb/> daſs sie auch wirklich sehr oft über einsicht und erfahrung verfügten,<lb/> die den beamten und selbst dem rate abgiengen, ist natürlich. wer<lb/> sich als ratsherr oder schatzmeister etwa in die finanzen oder einen teil<lb/> derselben hineingearbeitet hatte, konnte seine erfahrung später nur als<lb/> redner geltend machen; aber es trat in diesen unverantwortlichen<note place="foot" n="5)">Von den auf die redner besonders gemünzten gesetzlichen bestimmungen,<lb/> die in der demosthenischen zeit auch mehr beredet als beachtet werden, ist im fünften<lb/> jahrhundert nicht einmal die rede.</note><lb/> rednern ein nicht bloſs fremdes, sondern gefährliches element in den<lb/> verfassungsmäſsigen organismus des staates ein. die redner übten kritik<lb/> an den vorlagen des rates und der strategen, ohne doch selbst in den ge-<lb/> schäften zu stehn, gaben ihnen den befehl es so oder so zu machen, ohne<lb/> doch zu der ausführung selbst hand anzulegen. sie hatten das ohr des sou-<lb/> veräns, ohne doch für das einstehn zu müssen, wozu sie ihn bestimmten. der<lb/> souverän selbst aber ward tatsächlich in sehr vielen sitzungen durch die<lb/> habitués der ekklesia repräsentirt, die leute, die zeit und lust hatten, auf die<lb/> pnyx zu gehn. es konnte gar nicht anders sein, als daſs das die leute<lb/> aus der stadt und ihrer nächsten umgebung waren, und daſs die besten<lb/> vertreter des demos, die bauern, die kaufleute, die industriellen unter-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0120]
II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.
er nur wollte, jahraus jahrein erscheinen, zuhören und reden, schon
zehn jahre lang, ehe er beamter ratsherr und richter werden konnte.
das volk wählte auch gar nicht selten direct commissionen, selbst für
so wichtige dinge wie die ausarbeitung von gesetzen, die gesandten, die
vertreter des fiscus vor gericht 4): da kamen also leute hinein ohne die
beschränkungen aller art, denen die beamten unterlagen, nicht auf präsen-
tation durch die phylen oder gemeinden, sondern als vertrauensmänner des
volkes, der ekklesia. die ekklesia war berechtigt, sich als der souve-
rän zu fühlen, sie sollte im gegensatze zu den abteilungen des volkes das
ganze, im gegensatze zu den wechselnden beamten die dauer und stetig-
keit des regiments vertreten. und wirklich, es fanden sich ständige
besucher, das gros der abstimmenden, und es bildeten sich berufsmäſsige
parlamentarier, die ῥήτοϱες, die aus der versammlung das wort ergriffen.
daſs diese leute die geschäftsordnung und die regelmäſsigen geschäfte
und die künste der debatte sehr bald besser als das präsidium begriffen,
daſs sie auch wirklich sehr oft über einsicht und erfahrung verfügten,
die den beamten und selbst dem rate abgiengen, ist natürlich. wer
sich als ratsherr oder schatzmeister etwa in die finanzen oder einen teil
derselben hineingearbeitet hatte, konnte seine erfahrung später nur als
redner geltend machen; aber es trat in diesen unverantwortlichen 5)
rednern ein nicht bloſs fremdes, sondern gefährliches element in den
verfassungsmäſsigen organismus des staates ein. die redner übten kritik
an den vorlagen des rates und der strategen, ohne doch selbst in den ge-
schäften zu stehn, gaben ihnen den befehl es so oder so zu machen, ohne
doch zu der ausführung selbst hand anzulegen. sie hatten das ohr des sou-
veräns, ohne doch für das einstehn zu müssen, wozu sie ihn bestimmten. der
souverän selbst aber ward tatsächlich in sehr vielen sitzungen durch die
habitués der ekklesia repräsentirt, die leute, die zeit und lust hatten, auf die
pnyx zu gehn. es konnte gar nicht anders sein, als daſs das die leute
aus der stadt und ihrer nächsten umgebung waren, und daſs die besten
vertreter des demos, die bauern, die kaufleute, die industriellen unter-
4) Aristophanes wird nicht müde über diese bevorzugungen zu schelten; daſs
sie zu den gesandtschaften nicht herankommen wie Pyrilampes, Diotimos, Morychos
ärgert die Acharner am meisten; auch ein ξυγγϱαφεύς, Antimachos, wird als solcher
angegriffen, und die noch dazu gut bezahlten συνήγοϱοι machen den Philokleon an
der herrlichkeit seines heliastentumes irre.
5) Von den auf die redner besonders gemünzten gesetzlichen bestimmungen,
die in der demosthenischen zeit auch mehr beredet als beachtet werden, ist im fünften
jahrhundert nicht einmal die rede.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |