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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die stimmung in den chorliedern.
als tyrann, lockte als der vertrauensmann des Persers und der Ionier.
der wunsch, das persische gold für die eigene schiffsmannschaft zu er-
halten, leuchtete den darbenden Athenern der masse aus den augen, so
chimaerisch er war. die abfällige beurteilung der demokratie durch die
sophistische kritik war allbekannt; die vornehme jugend war mit der
omologoumene anoia, wie Alkibiades bei Thukydides sagt, längst inner-
lich fertig. die litteratur, Antiphon noch mehr als Andokides und seines
gleichen, arbeitete auf einen umsturz hin. die catilinarischen existenzen,
verschuldete demagogen, advocaten, die früher bündner und metoeken ge-
schröpft hatten und jetzt auf dem trocknen sassen, landleute, die durch die
occupation Attikas verarmt waren, fehlten auch nicht und lauerten auf
die gelegenheit, woher sie auch käme, im trüben zu fischen. man ahnte
dunkel allgemein, dass ein sturm bevorstand, mochte man auch nicht
wissen, woher er wehen, wohin er treiben würde. Aristophanes war
kein politiker; weder eine tiefe sittliche wirkung noch einen entschei-
denden praktischen anstoss wollte oder konnte sein spiel geben. er war
ein talent und kein charakter, und sein nachen fuhr dann am kecksten
und graziösesten, wenn er den wind der öffentlichen meinung in dem
segel spürte. so weit er eine politische meinung besass, gehörte sie den
gut patriotischen, aber weder wirklich demokratischen noch geradezu
reactionären kreisen an, die etwa Nikias gegen Kleon und Alkibiades
vertreten hatte. seine stücke gefielen, so oft er diesen ton traf: das
war also die öffentliche meinung. in diesen kreisen wollte man weder
von den Persern etwas wissen noch von Alkibiades noch von einer
revolution; es sollte so gut gehn, wie es gegangen war, man wollte sich
gern mit Sparta vertragen, aber herrschen wollte man natürlich, davon
lebte man ja. wie man aus der not herauskommen sollte, das wusste
man freilich nicht, aber dafür hatte man die himmlische helferin Athena,
oder minder fromm und minder resignirt geredet, man vertraute auf das
prestige, die grossen traditionen, die volkskraft, die demokratie. und
so kann in einer zeit der angst und der sorge vor dem kommenden noch
mehr als der not und gefahr, die rings von aussen drohte, der dichter
seine mahnung in die form kleiden, dass er jeden verflucht, der an dem
bestehenden rechte rüttelt, indem er die officielle fluchformel aufnimmt.
'vor der revolution, vor dem tyrannen, vor dem verrate an die feinde,
vor dem transigiren mit dem Perser bewahre uns gott in gnaden.' das
ist gesagt, als alles dies drohte, kurz ehe alles oder fast alles dennoch
hereinbrach; die lieder der Thesmophoriazusen sind ein stimmungsbild
aus dem Athen des frühjahrs 411.


Die stimmung in den chorliedern.
als tyrann, lockte als der vertrauensmann des Persers und der Ionier.
der wunsch, das persische gold für die eigene schiffsmannschaft zu er-
halten, leuchtete den darbenden Athenern der masse aus den augen, so
chimaerisch er war. die abfällige beurteilung der demokratie durch die
sophistische kritik war allbekannt; die vornehme jugend war mit der
ὁμολογουμένη ἄνοια, wie Alkibiades bei Thukydides sagt, längst inner-
lich fertig. die litteratur, Antiphon noch mehr als Andokides und seines
gleichen, arbeitete auf einen umsturz hin. die catilinarischen existenzen,
verschuldete demagogen, advocaten, die früher bündner und metoeken ge-
schröpft hatten und jetzt auf dem trocknen saſsen, landleute, die durch die
occupation Attikas verarmt waren, fehlten auch nicht und lauerten auf
die gelegenheit, woher sie auch käme, im trüben zu fischen. man ahnte
dunkel allgemein, daſs ein sturm bevorstand, mochte man auch nicht
wissen, woher er wehen, wohin er treiben würde. Aristophanes war
kein politiker; weder eine tiefe sittliche wirkung noch einen entschei-
denden praktischen anstoſs wollte oder konnte sein spiel geben. er war
ein talent und kein charakter, und sein nachen fuhr dann am kecksten
und graziösesten, wenn er den wind der öffentlichen meinung in dem
segel spürte. so weit er eine politische meinung besaſs, gehörte sie den
gut patriotischen, aber weder wirklich demokratischen noch geradezu
reactionären kreisen an, die etwa Nikias gegen Kleon und Alkibiades
vertreten hatte. seine stücke gefielen, so oft er diesen ton traf: das
war also die öffentliche meinung. in diesen kreisen wollte man weder
von den Persern etwas wissen noch von Alkibiades noch von einer
revolution; es sollte so gut gehn, wie es gegangen war, man wollte sich
gern mit Sparta vertragen, aber herrschen wollte man natürlich, davon
lebte man ja. wie man aus der not herauskommen sollte, das wuſste
man freilich nicht, aber dafür hatte man die himmlische helferin Athena,
oder minder fromm und minder resignirt geredet, man vertraute auf das
prestige, die groſsen traditionen, die volkskraft, die demokratie. und
so kann in einer zeit der angst und der sorge vor dem kommenden noch
mehr als der not und gefahr, die rings von auſsen drohte, der dichter
seine mahnung in die form kleiden, daſs er jeden verflucht, der an dem
bestehenden rechte rüttelt, indem er die officielle fluchformel aufnimmt.
‘vor der revolution, vor dem tyrannen, vor dem verrate an die feinde,
vor dem transigiren mit dem Perser bewahre uns gott in gnaden.’ das
ist gesagt, als alles dies drohte, kurz ehe alles oder fast alles dennoch
hereinbrach; die lieder der Thesmophoriazusen sind ein stimmungsbild
aus dem Athen des frühjahrs 411.


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[351/0361] Die stimmung in den chorliedern. als tyrann, lockte als der vertrauensmann des Persers und der Ionier. der wunsch, das persische gold für die eigene schiffsmannschaft zu er- halten, leuchtete den darbenden Athenern der masse aus den augen, so chimaerisch er war. die abfällige beurteilung der demokratie durch die sophistische kritik war allbekannt; die vornehme jugend war mit der ὁμολογουμένη ἄνοια, wie Alkibiades bei Thukydides sagt, längst inner- lich fertig. die litteratur, Antiphon noch mehr als Andokides und seines gleichen, arbeitete auf einen umsturz hin. die catilinarischen existenzen, verschuldete demagogen, advocaten, die früher bündner und metoeken ge- schröpft hatten und jetzt auf dem trocknen saſsen, landleute, die durch die occupation Attikas verarmt waren, fehlten auch nicht und lauerten auf die gelegenheit, woher sie auch käme, im trüben zu fischen. man ahnte dunkel allgemein, daſs ein sturm bevorstand, mochte man auch nicht wissen, woher er wehen, wohin er treiben würde. Aristophanes war kein politiker; weder eine tiefe sittliche wirkung noch einen entschei- denden praktischen anstoſs wollte oder konnte sein spiel geben. er war ein talent und kein charakter, und sein nachen fuhr dann am kecksten und graziösesten, wenn er den wind der öffentlichen meinung in dem segel spürte. so weit er eine politische meinung besaſs, gehörte sie den gut patriotischen, aber weder wirklich demokratischen noch geradezu reactionären kreisen an, die etwa Nikias gegen Kleon und Alkibiades vertreten hatte. seine stücke gefielen, so oft er diesen ton traf: das war also die öffentliche meinung. in diesen kreisen wollte man weder von den Persern etwas wissen noch von Alkibiades noch von einer revolution; es sollte so gut gehn, wie es gegangen war, man wollte sich gern mit Sparta vertragen, aber herrschen wollte man natürlich, davon lebte man ja. wie man aus der not herauskommen sollte, das wuſste man freilich nicht, aber dafür hatte man die himmlische helferin Athena, oder minder fromm und minder resignirt geredet, man vertraute auf das prestige, die groſsen traditionen, die volkskraft, die demokratie. und so kann in einer zeit der angst und der sorge vor dem kommenden noch mehr als der not und gefahr, die rings von auſsen drohte, der dichter seine mahnung in die form kleiden, daſs er jeden verflucht, der an dem bestehenden rechte rüttelt, indem er die officielle fluchformel aufnimmt. ‘vor der revolution, vor dem tyrannen, vor dem verrate an die feinde, vor dem transigiren mit dem Perser bewahre uns gott in gnaden.’ das ist gesagt, als alles dies drohte, kurz ehe alles oder fast alles dennoch hereinbrach; die lieder der Thesmophoriazusen sind ein stimmungsbild aus dem Athen des frühjahrs 411.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/361>, abgerufen am 24.11.2024.