Wenn diese ausgabe eines euripideischen dramas als erstes capitel der prolegomena eine biographische skizze bringt, so geschieht das im an- schluss an die weise der antiken philologie. wir lesen in den erhaltenen handlschriften der dichter, wenigstens so weit sie auf gelehrte ausgaben des altertums zurückgehen, einen lebensabriss, der meistens genos heisst, weil er mit der herkunft anhebt, auch wol weil den verfassern bios zu anspruchsvoll klang. denn es lag ihnen fern, von dem wesen und wirken des dichters eine schilderung zu geben, geschweige dass sie etwas hätten leisten wollen, was wir biographie nennen: dazu hat sich niemand im altertum erhoben. sie wollten dem leser nur kurz die nachrichten über die äussern lebensumstände des mannes angeben, dessen werke folgten. durch deren lecture mochte dann jeder sich den rahmen selbst füllen; zur richtigen beurteilung erhielt er in dem genos einige orientirende beobachtungen und kunsturteile. diese weise, schon in alexandrinischer zeit geübt, ist praktisch und wird deshalb von den modernen häufig und so auch hier befolgt. eine wirkliche biographie, eine entwickelungs- geschichte des individuums innerhalb der kreise, in die es gestellt war, eine biographie wie Justi's Winckelmann, können wir von keinem Hellenen schreiben, weil dazu das material für uns fehlt: im altertum würde es z. b. von Aristoteles und Epikuros möglich gewesen sein, weil deren correspon- denz veröffentlicht war; von einem manne des fünften jahrhunderts würde es auch damals niemand haben leisten können. M. Cicero ist überhaupt der älteste sterbliche, von dem eine solche biographie geschrieben werden kann: das beste zeugnis für die eminente persönliche bedeutung des mannes. aber eine biographie in grossen zügen, eine mehr erörternde als er- zählende darlegung von eines einzelnen menschen wirken, zunächst in seinem kreise, dann aber weiter für sein volk, für die folgezeit, für uns und die ewigkeit, eine biographie wie Goethe's Winckelmann, die liesse
v. Wilamowitz I. 1
1. DAS LEBEN DES EURIPIDES.
Wenn diese ausgabe eines euripideischen dramas als erstes capitel der prolegomena eine biographische skizze bringt, so geschieht das im an- schluſs an die weise der antiken philologie. wir lesen in den erhaltenen handlschriften der dichter, wenigstens so weit sie auf gelehrte ausgaben des altertums zurückgehen, einen lebensabriſs, der meistens γένος heiſst, weil er mit der herkunft anhebt, auch wol weil den verfassern βίος zu anspruchsvoll klang. denn es lag ihnen fern, von dem wesen und wirken des dichters eine schilderung zu geben, geschweige daſs sie etwas hätten leisten wollen, was wir biographie nennen: dazu hat sich niemand im altertum erhoben. sie wollten dem leser nur kurz die nachrichten über die äuſsern lebensumstände des mannes angeben, dessen werke folgten. durch deren lecture mochte dann jeder sich den rahmen selbst füllen; zur richtigen beurteilung erhielt er in dem γένος einige orientirende beobachtungen und kunsturteile. diese weise, schon in alexandrinischer zeit geübt, ist praktisch und wird deshalb von den modernen häufig und so auch hier befolgt. eine wirkliche biographie, eine entwickelungs- geschichte des individuums innerhalb der kreise, in die es gestellt war, eine biographie wie Justi’s Winckelmann, können wir von keinem Hellenen schreiben, weil dazu das material für uns fehlt: im altertum würde es z. b. von Aristoteles und Epikuros möglich gewesen sein, weil deren correspon- denz veröffentlicht war; von einem manne des fünften jahrhunderts würde es auch damals niemand haben leisten können. M. Cicero ist überhaupt der älteste sterbliche, von dem eine solche biographie geschrieben werden kann: das beste zeugnis für die eminente persönliche bedeutung des mannes. aber eine biographie in groſsen zügen, eine mehr erörternde als er- zählende darlegung von eines einzelnen menschen wirken, zunächst in seinem kreise, dann aber weiter für sein volk, für die folgezeit, für uns und die ewigkeit, eine biographie wie Goethe’s Winckelmann, die lieſse
v. Wilamowitz I. 1
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1.
DAS LEBEN DES EURIPIDES.
Wenn diese ausgabe eines euripideischen dramas als erstes capitel
der prolegomena eine biographische skizze bringt, so geschieht das im an-
schluſs an die weise der antiken philologie. wir lesen in den erhaltenen
handlschriften der dichter, wenigstens so weit sie auf gelehrte ausgaben
des altertums zurückgehen, einen lebensabriſs, der meistens γένος heiſst,
weil er mit der herkunft anhebt, auch wol weil den verfassern βίος
zu anspruchsvoll klang. denn es lag ihnen fern, von dem wesen und
wirken des dichters eine schilderung zu geben, geschweige daſs sie etwas
hätten leisten wollen, was wir biographie nennen: dazu hat sich niemand
im altertum erhoben. sie wollten dem leser nur kurz die nachrichten
über die äuſsern lebensumstände des mannes angeben, dessen werke folgten.
durch deren lecture mochte dann jeder sich den rahmen selbst füllen;
zur richtigen beurteilung erhielt er in dem γένος einige orientirende
beobachtungen und kunsturteile. diese weise, schon in alexandrinischer
zeit geübt, ist praktisch und wird deshalb von den modernen häufig und
so auch hier befolgt. eine wirkliche biographie, eine entwickelungs-
geschichte des individuums innerhalb der kreise, in die es gestellt war,
eine biographie wie Justi’s Winckelmann, können wir von keinem Hellenen
schreiben, weil dazu das material für uns fehlt: im altertum würde es z. b.
von Aristoteles und Epikuros möglich gewesen sein, weil deren correspon-
denz veröffentlicht war; von einem manne des fünften jahrhunderts würde
es auch damals niemand haben leisten können. M. Cicero ist überhaupt der
älteste sterbliche, von dem eine solche biographie geschrieben werden kann:
das beste zeugnis für die eminente persönliche bedeutung des mannes.
aber eine biographie in groſsen zügen, eine mehr erörternde als er-
zählende darlegung von eines einzelnen menschen wirken, zunächst in
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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