die mehrzahl der aristophanischen stücke und einige euripideische zu seinem rechte. das war überall ein grosser fortschritt: im Sophokles war es die befreiung von dem triclinischen firniss.
Das schulhaupt der zünftigen in gelehrtenstolz und gelehrtenbe-Die Holländer. schränktheit sich wiegenden holländischen philologie, die seit Tiberius Hemsterhuys nicht ohne Bentleys einwirkung den Hellenismus wieder auf- genommen hatte, Ludwig Caspar Valckenaer, war ein ganz anderer mann. von poesie war ihm wenig mehr als ein schimmer des französischen classi- cismus aufgegangen, aber er übertraf an wucht der gelehrsamkeit alle zeitgenossen, und wenn er auch in den commentaren den gelehrten klein- kram auslegte und deshalb dem spotte Porsons verfiel, so war das übel placirte doch meist wirklich wissenswertes und stets selbsterworbenes gut. die beiden berühmten ausgaben von Euripides Phoenissen und Hippolytos haben das verständnis dieser dramen nicht eben stark gefördert, und die conjecturale begabung und auch das stilgefühl Valckenaers war für die poesie nicht stark. aber indem er die scholien der Phoenissen mit heran- zog, wies er auf ein wichtiges lange vernachlässigtes gebiet hin, und für die tragiker selbst hat er dadurch ein dauerndes, vergeblich von G. Hermann bestrittenes, verdienst, dass er auf die interpolationen des euripideischen textes aufmerksam ward. der misbrauch, den das 19. jahrhundert mit diesem kritischen heilmittel getrieben hat und den es als besonderen schandfleck in der zukunft tragen wird, hebt das verdienst Valckenaers nicht auf, die tatsache, dass der text der attischen dichter von stücken unberufener hand durchsetzt ist, zur anerkennung gebracht zu haben. doch die vornehmste bedeutung, weit über das greifend was er selbst ahnte, hat sein bestreben gewonnen, aus den resten der verlornen dramen und den berichten über ihren inhalt wenigstens ein bild von dem ver- lornen wieder zu gewinnen. hier gieng es der gelehrsamkeit, welche die ganze weite der späteren litteratur durchmass, endlich auf, dass in dieser mehr zu finden wäre als ein sentenzchen oder die gegenseitige emendation von original und copie: sie fand den prüfstein der kritik, der das katzen- gold der tragikersprüche überführte, mit denen Juden und Christen für ihre dogmen propaganda gemacht hatten; sie überzeugte sich, dass die splitter der zertrümmerten kunstwerke im schutte der nachwelt so zahl- reich waren, dass sie gesammelt und gesäubert für einzelnes wenigstens die restauration ermöglichten. es hat allerdings lange gedauert, bis Valckenaer auf diesem gebiete nachfolge erhielt, und sie kam nicht von streng philologischer seite. in Holland fand seine arbeit für die dichter überhaupt wenig nachfolge. als der grosse gelehrte, der ein jahrhundert
Brunck. die Holländer.
die mehrzahl der aristophanischen stücke und einige euripideische zu seinem rechte. das war überall ein groſser fortschritt: im Sophokles war es die befreiung von dem triclinischen firniſs.
Das schulhaupt der zünftigen in gelehrtenstolz und gelehrtenbe-Die Holländer. schränktheit sich wiegenden holländischen philologie, die seit Tiberius Hemsterhuys nicht ohne Bentleys einwirkung den Hellenismus wieder auf- genommen hatte, Ludwig Caspar Valckenaer, war ein ganz anderer mann. von poesie war ihm wenig mehr als ein schimmer des französischen classi- cismus aufgegangen, aber er übertraf an wucht der gelehrsamkeit alle zeitgenossen, und wenn er auch in den commentaren den gelehrten klein- kram auslegte und deshalb dem spotte Porsons verfiel, so war das übel placirte doch meist wirklich wissenswertes und stets selbsterworbenes gut. die beiden berühmten ausgaben von Euripides Phoenissen und Hippolytos haben das verständnis dieser dramen nicht eben stark gefördert, und die conjecturale begabung und auch das stilgefühl Valckenaers war für die poesie nicht stark. aber indem er die scholien der Phoenissen mit heran- zog, wies er auf ein wichtiges lange vernachlässigtes gebiet hin, und für die tragiker selbst hat er dadurch ein dauerndes, vergeblich von G. Hermann bestrittenes, verdienst, daſs er auf die interpolationen des euripideischen textes aufmerksam ward. der misbrauch, den das 19. jahrhundert mit diesem kritischen heilmittel getrieben hat und den es als besonderen schandfleck in der zukunft tragen wird, hebt das verdienst Valckenaers nicht auf, die tatsache, daſs der text der attischen dichter von stücken unberufener hand durchsetzt ist, zur anerkennung gebracht zu haben. doch die vornehmste bedeutung, weit über das greifend was er selbst ahnte, hat sein bestreben gewonnen, aus den resten der verlornen dramen und den berichten über ihren inhalt wenigstens ein bild von dem ver- lornen wieder zu gewinnen. hier gieng es der gelehrsamkeit, welche die ganze weite der späteren litteratur durchmaſs, endlich auf, daſs in dieser mehr zu finden wäre als ein sentenzchen oder die gegenseitige emendation von original und copie: sie fand den prüfstein der kritik, der das katzen- gold der tragikersprüche überführte, mit denen Juden und Christen für ihre dogmen propaganda gemacht hatten; sie überzeugte sich, daſs die splitter der zertrümmerten kunstwerke im schutte der nachwelt so zahl- reich waren, daſs sie gesammelt und gesäubert für einzelnes wenigstens die restauration ermöglichten. es hat allerdings lange gedauert, bis Valckenaer auf diesem gebiete nachfolge erhielt, und sie kam nicht von streng philologischer seite. in Holland fand seine arbeit für die dichter überhaupt wenig nachfolge. als der groſse gelehrte, der ein jahrhundert
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Brunck. die Holländer.
die mehrzahl der aristophanischen stücke und einige euripideische zu
seinem rechte. das war überall ein groſser fortschritt: im Sophokles war
es die befreiung von dem triclinischen firniſs.
Das schulhaupt der zünftigen in gelehrtenstolz und gelehrtenbe-
schränktheit sich wiegenden holländischen philologie, die seit Tiberius
Hemsterhuys nicht ohne Bentleys einwirkung den Hellenismus wieder auf-
genommen hatte, Ludwig Caspar Valckenaer, war ein ganz anderer mann.
von poesie war ihm wenig mehr als ein schimmer des französischen classi-
cismus aufgegangen, aber er übertraf an wucht der gelehrsamkeit alle
zeitgenossen, und wenn er auch in den commentaren den gelehrten klein-
kram auslegte und deshalb dem spotte Porsons verfiel, so war das übel
placirte doch meist wirklich wissenswertes und stets selbsterworbenes gut.
die beiden berühmten ausgaben von Euripides Phoenissen und Hippolytos
haben das verständnis dieser dramen nicht eben stark gefördert, und die
conjecturale begabung und auch das stilgefühl Valckenaers war für die
poesie nicht stark. aber indem er die scholien der Phoenissen mit heran-
zog, wies er auf ein wichtiges lange vernachlässigtes gebiet hin, und für
die tragiker selbst hat er dadurch ein dauerndes, vergeblich von G. Hermann
bestrittenes, verdienst, daſs er auf die interpolationen des euripideischen
textes aufmerksam ward. der misbrauch, den das 19. jahrhundert mit
diesem kritischen heilmittel getrieben hat und den es als besonderen
schandfleck in der zukunft tragen wird, hebt das verdienst Valckenaers
nicht auf, die tatsache, daſs der text der attischen dichter von stücken
unberufener hand durchsetzt ist, zur anerkennung gebracht zu haben.
doch die vornehmste bedeutung, weit über das greifend was er selbst
ahnte, hat sein bestreben gewonnen, aus den resten der verlornen dramen
und den berichten über ihren inhalt wenigstens ein bild von dem ver-
lornen wieder zu gewinnen. hier gieng es der gelehrsamkeit, welche die
ganze weite der späteren litteratur durchmaſs, endlich auf, daſs in dieser
mehr zu finden wäre als ein sentenzchen oder die gegenseitige emendation
von original und copie: sie fand den prüfstein der kritik, der das katzen-
gold der tragikersprüche überführte, mit denen Juden und Christen für
ihre dogmen propaganda gemacht hatten; sie überzeugte sich, daſs die
splitter der zertrümmerten kunstwerke im schutte der nachwelt so zahl-
reich waren, daſs sie gesammelt und gesäubert für einzelnes wenigstens
die restauration ermöglichten. es hat allerdings lange gedauert, bis
Valckenaer auf diesem gebiete nachfolge erhielt, und sie kam nicht von
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/251>, abgerufen am 27.11.2024.
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