Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Wege und ziele der modernen tragikerkritik. nach ihm schulhaupt ward und als ein neuer Phrynichus die bürste einesunerbittlichen atticismus ergriff und so die texte der echten und der nach- ahmenden attischen prosaiker von den flecken der überlieferung und den spinneweben der beschönigenden commentare befreite, da hatten die attischen komiker einen starken nutzen davon; für die tragiker konnte der natur der sache nach nicht eben viel erreicht werden. ihre sprache lässt sich, auch abgesehen von den chorliedern, die überhaupt unberührt blieben, nicht über einen kamm scheren, und wo das am ehesten zu gehen schien und am meisten versucht ward, im euripideischen dialog, war der erfolg ein sehr mässiger, weil Euripides nicht in prosa geschrieben hat, am wenigsten in trivialer. neben oder vielmehr unter dem meister haben andere Holländer die conjecturenmache en gros um so schwungvoller betrieben, als sie die palaeographische routine und das bequeme glauben an dogmen zur beflügelung hatten, und weder die last sachlichen wissens noch die bedenklichkeiten geschichtlicher oder philosophischer betrachtung ihre schritte hemmten. Auf Deutschland sah Porson mit verachtung herab; er parodirte die goethische zeit. Reiske hatte selbst so gut wie keine nachfolge; es war ein menschen- Wege und ziele der modernen tragikerkritik. nach ihm schulhaupt ward und als ein neuer Phrynichus die bürste einesunerbittlichen atticismus ergriff und so die texte der echten und der nach- ahmenden attischen prosaiker von den flecken der überlieferung und den spinneweben der beschönigenden commentare befreite, da hatten die attischen komiker einen starken nutzen davon; für die tragiker konnte der natur der sache nach nicht eben viel erreicht werden. ihre sprache läſst sich, auch abgesehen von den chorliedern, die überhaupt unberührt blieben, nicht über einen kamm scheren, und wo das am ehesten zu gehen schien und am meisten versucht ward, im euripideischen dialog, war der erfolg ein sehr mäſsiger, weil Euripides nicht in prosa geschrieben hat, am wenigsten in trivialer. neben oder vielmehr unter dem meister haben andere Holländer die conjecturenmache en gros um so schwungvoller betrieben, als sie die palaeographische routine und das bequeme glauben an dogmen zur beflügelung hatten, und weder die last sachlichen wissens noch die bedenklichkeiten geschichtlicher oder philosophischer betrachtung ihre schritte hemmten. Auf Deutschland sah Porson mit verachtung herab; er parodirte die goethische zeit. Reiske hatte selbst so gut wie keine nachfolge; es war ein menschen- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0252" n="232"/><fw place="top" type="header">Wege und ziele der modernen tragikerkritik.</fw><lb/> nach ihm schulhaupt ward und als ein neuer Phrynichus die bürste eines<lb/> unerbittlichen atticismus ergriff und so die texte der echten und der nach-<lb/> ahmenden attischen prosaiker von den flecken der überlieferung und den<lb/> spinneweben der beschönigenden commentare befreite, da hatten die<lb/> attischen komiker einen starken nutzen davon; für die tragiker konnte der<lb/> natur der sache nach nicht eben viel erreicht werden. ihre sprache läſst<lb/> sich, auch abgesehen von den chorliedern, die überhaupt unberührt blieben,<lb/> nicht über einen kamm scheren, und wo das am ehesten zu gehen schien<lb/> und am meisten versucht ward, im euripideischen dialog, war der erfolg<lb/> ein sehr mäſsiger, weil Euripides nicht in prosa geschrieben hat, am<lb/> wenigsten in trivialer. neben oder vielmehr unter dem meister haben andere<lb/> Holländer die conjecturenmache en gros um so schwungvoller betrieben,<lb/> als sie die palaeographische routine und das bequeme glauben an dogmen<lb/> zur beflügelung hatten, und weder die last sachlichen wissens noch die<lb/> bedenklichkeiten geschichtlicher oder philosophischer betrachtung ihre<lb/> schritte hemmten.</p><lb/> <note place="left">Reiske.</note> <p>Auf Deutschland sah Porson mit verachtung herab; er parodirte die<lb/> alten verse des Demodokos sehr artig also <hi rendition="#i">The Germans in Greek are<lb/> sadly to seek, all, save only Hermann, and Hermann is a German</hi>. man<lb/> konnte es ihm kaum verdenken; nur einen können wir vor Hermann<lb/> aufweisen, der an sprachkenntnis im ganzen keinem nachstand, an erfind-<lb/> samkeit Porson und seine schüler alle (auſser Dobree vielleicht) übertraf,<lb/> und auch in den tragikern, bei denen der rastlose wanderer auf seinem<lb/> zuge durch die ungemessene weite mehrerer litteraturen doch nur kurz<lb/> verweilt hatte, überraschend viel bleibendes geschaffen hat, obwol ihm<lb/> nie aufgegangen ist, was ein trimeter ist, und er der sprache manche<lb/> unmöglichkeiten, vieles unerträgliche zugemutet hat: ein mann, dem die<lb/> Chariten so wenig wie die Moiren je gelächelt haben, und der doch des<lb/> geschickes durch eigene sittliche kraft herr ward, und für die edelsten<lb/> kunstwerke durch seines geistes kraft mehr geleistet hat als die meisten<lb/> verwöhnten lieblinge der Charis. 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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
nach ihm schulhaupt ward und als ein neuer Phrynichus die bürste eines
unerbittlichen atticismus ergriff und so die texte der echten und der nach-
ahmenden attischen prosaiker von den flecken der überlieferung und den
spinneweben der beschönigenden commentare befreite, da hatten die
attischen komiker einen starken nutzen davon; für die tragiker konnte der
natur der sache nach nicht eben viel erreicht werden. ihre sprache läſst
sich, auch abgesehen von den chorliedern, die überhaupt unberührt blieben,
nicht über einen kamm scheren, und wo das am ehesten zu gehen schien
und am meisten versucht ward, im euripideischen dialog, war der erfolg
ein sehr mäſsiger, weil Euripides nicht in prosa geschrieben hat, am
wenigsten in trivialer. neben oder vielmehr unter dem meister haben andere
Holländer die conjecturenmache en gros um so schwungvoller betrieben,
als sie die palaeographische routine und das bequeme glauben an dogmen
zur beflügelung hatten, und weder die last sachlichen wissens noch die
bedenklichkeiten geschichtlicher oder philosophischer betrachtung ihre
schritte hemmten.
Auf Deutschland sah Porson mit verachtung herab; er parodirte die
alten verse des Demodokos sehr artig also The Germans in Greek are
sadly to seek, all, save only Hermann, and Hermann is a German. man
konnte es ihm kaum verdenken; nur einen können wir vor Hermann
aufweisen, der an sprachkenntnis im ganzen keinem nachstand, an erfind-
samkeit Porson und seine schüler alle (auſser Dobree vielleicht) übertraf,
und auch in den tragikern, bei denen der rastlose wanderer auf seinem
zuge durch die ungemessene weite mehrerer litteraturen doch nur kurz
verweilt hatte, überraschend viel bleibendes geschaffen hat, obwol ihm
nie aufgegangen ist, was ein trimeter ist, und er der sprache manche
unmöglichkeiten, vieles unerträgliche zugemutet hat: ein mann, dem die
Chariten so wenig wie die Moiren je gelächelt haben, und der doch des
geschickes durch eigene sittliche kraft herr ward, und für die edelsten
kunstwerke durch seines geistes kraft mehr geleistet hat als die meisten
verwöhnten lieblinge der Charis. Johann Jacob Reiske, den die perrücken
von Leyden und Leipzig, die geheimderäte von Halle und die hofräte
von Göttingen nicht aufkommen lieſsen, der aber Lessing zum freunde
hatte, steht allein als vertreter des Hellenismus in Deutschland, in das er
so wenig hinein gehörte wie Winckelmann. man hat ihm erst nach dem
tode sein recht gegeben. quis hodie non contemnit Dorvillium, Reiskium
non admiratur, hat Cobet gesagt.
Reiske hatte selbst so gut wie keine nachfolge; es war ein menschen-
alter später, daſs Porson seinen widerwillen gegen die deutschen Helle-
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