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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.

Hermann selbst hat wider seinen willen stark zu dem einreissen
völliger zuchtlossigkeit beigetragen. wie so viele grosse kritiker, Bentley
an der spitze, ward er im alter immer gewaltsamer. auch ihm erschienen
immer mehr metrische gesetze, die er in wahrheit selbst gab, für die
dichter verbindlich; immer stärkere anomalieen mutete er der sprache zu.
es ist nur menschlich, dass die form, welche sich der einzelne nach jahre-
langem sinnen subjectiv als befriedigend festgestellt hat, ihm allmählich als
objectiv wahr erscheint. die wissenschaft hat zeit, aber der mensch nicht,
und wem die probleme ein langes leben am herzen liegen, der mag nicht
von den ungelösten scheiden. im gefühle seiner eigenen bedeutung wirft er
dann das persönliche meinen in die wagschale, und die liebenswürdige pietät
für das lebenswerk eines grossen mannes lässt die rein sachliche schätzung
zurücktreten. als nach Hermanns tode sein Aischylos ans licht trat, hatte
er freilich für jeden rechten philologen einen unschätzbaren wert; hat
ihn doch Welcker nicht ohne tränen in die hand genommen; aber das
ist ein pretium affectionis. in wahrheit besteht Hermanns grösse trotz
diesem, nicht durch dieses buch. es ist nicht wahr, dass er etwa eine
kühne restitution oion an genoito gegeben hätte, denn sehr vieles was
da steht, hat weder Aischylos noch überhaupt ein Athener sagen können.
kommt es doch in folge der ungenügenden diplomatischen kritik sogar vor,
dass Triclinius statt der überlieferung als ausgangspunkt genommen wird.
die metrische gestaltung wird fast nie begründet, oder es stehen doch
machtsprüche statt der gründe; häufig ist die responsion sylbe für sylbe
willkürlich erzwungen; nichts als spielerische willkür ist die verteilung
der chorpartieen unter die personen, und der procentsatz der gelungenen
conjecturen ist keinesweges ein günstiger. kaum minder verderblich ist
die grosse zahl ganz unglaublicher härten, welche die erklärung dem
dichter und leser zumutet. so steht es. und der erfolg ist nicht aus-
geblieben, dass die masse sich auf die unglücklichen texte stürzte und
sie zerriss und zerfleischte, weil man allerdings nicht Hermann zu sein
braucht um so mit einem gedichte umzugehen.

Irrwege und
irrwische.

Von dem menschenalter, welches auf G. Hermanns tod folgte, ist
es schwer anders als mit dem zorne zu reden, der M. Haupt sein köst-
liches Elektraprogramm (op. II 286) eingab. in der sintflut von conjec-
turen drohten in der tat die tragikertexte völlig zu ertrinken. wenn
man sich das treiben ansieht, seine vielgeschäftigkeit, seine selbstgefällig-

darunter vereinzeltes richtige, was offen am wege lag. zu einer wirklichen erklärung
dieses wie einer ganzen reihe von dramen ist bisher auch noch nicht einmal der
grund gelegt.
Wege und ziele der modernen tragikerkritik.

Hermann selbst hat wider seinen willen stark zu dem einreiſsen
völliger zuchtlossigkeit beigetragen. wie so viele groſse kritiker, Bentley
an der spitze, ward er im alter immer gewaltsamer. auch ihm erschienen
immer mehr metrische gesetze, die er in wahrheit selbst gab, für die
dichter verbindlich; immer stärkere anomalieen mutete er der sprache zu.
es ist nur menschlich, daſs die form, welche sich der einzelne nach jahre-
langem sinnen subjectiv als befriedigend festgestellt hat, ihm allmählich als
objectiv wahr erscheint. die wissenschaft hat zeit, aber der mensch nicht,
und wem die probleme ein langes leben am herzen liegen, der mag nicht
von den ungelösten scheiden. im gefühle seiner eigenen bedeutung wirft er
dann das persönliche meinen in die wagschale, und die liebenswürdige pietät
für das lebenswerk eines groſsen mannes läſst die rein sachliche schätzung
zurücktreten. als nach Hermanns tode sein Aischylos ans licht trat, hatte
er freilich für jeden rechten philologen einen unschätzbaren wert; hat
ihn doch Welcker nicht ohne tränen in die hand genommen; aber das
ist ein pretium affectionis. in wahrheit besteht Hermanns gröſse trotz
diesem, nicht durch dieses buch. es ist nicht wahr, daſs er etwa eine
kühne restitution οἷον ἂν γένοιτο gegeben hätte, denn sehr vieles was
da steht, hat weder Aischylos noch überhaupt ein Athener sagen können.
kommt es doch in folge der ungenügenden diplomatischen kritik sogar vor,
daſs Triclinius statt der überlieferung als ausgangspunkt genommen wird.
die metrische gestaltung wird fast nie begründet, oder es stehen doch
machtsprüche statt der gründe; häufig ist die responsion sylbe für sylbe
willkürlich erzwungen; nichts als spielerische willkür ist die verteilung
der chorpartieen unter die personen, und der procentsatz der gelungenen
conjecturen ist keinesweges ein günstiger. kaum minder verderblich ist
die groſse zahl ganz unglaublicher härten, welche die erklärung dem
dichter und leser zumutet. so steht es. und der erfolg ist nicht aus-
geblieben, daſs die masse sich auf die unglücklichen texte stürzte und
sie zerriſs und zerfleischte, weil man allerdings nicht Hermann zu sein
braucht um so mit einem gedichte umzugehen.

Irrwege und
irrwische.

Von dem menschenalter, welches auf G. Hermanns tod folgte, ist
es schwer anders als mit dem zorne zu reden, der M. Haupt sein köst-
liches Elektraprogramm (op. II 286) eingab. in der sintflut von conjec-
turen drohten in der tat die tragikertexte völlig zu ertrinken. wenn
man sich das treiben ansieht, seine vielgeschäftigkeit, seine selbstgefällig-

darunter vereinzeltes richtige, was offen am wege lag. zu einer wirklichen erklärung
dieses wie einer ganzen reihe von dramen ist bisher auch noch nicht einmal der
grund gelegt.
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[244/0264] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. Hermann selbst hat wider seinen willen stark zu dem einreiſsen völliger zuchtlossigkeit beigetragen. wie so viele groſse kritiker, Bentley an der spitze, ward er im alter immer gewaltsamer. auch ihm erschienen immer mehr metrische gesetze, die er in wahrheit selbst gab, für die dichter verbindlich; immer stärkere anomalieen mutete er der sprache zu. es ist nur menschlich, daſs die form, welche sich der einzelne nach jahre- langem sinnen subjectiv als befriedigend festgestellt hat, ihm allmählich als objectiv wahr erscheint. die wissenschaft hat zeit, aber der mensch nicht, und wem die probleme ein langes leben am herzen liegen, der mag nicht von den ungelösten scheiden. im gefühle seiner eigenen bedeutung wirft er dann das persönliche meinen in die wagschale, und die liebenswürdige pietät für das lebenswerk eines groſsen mannes läſst die rein sachliche schätzung zurücktreten. als nach Hermanns tode sein Aischylos ans licht trat, hatte er freilich für jeden rechten philologen einen unschätzbaren wert; hat ihn doch Welcker nicht ohne tränen in die hand genommen; aber das ist ein pretium affectionis. in wahrheit besteht Hermanns gröſse trotz diesem, nicht durch dieses buch. es ist nicht wahr, daſs er etwa eine kühne restitution οἷον ἂν γένοιτο gegeben hätte, denn sehr vieles was da steht, hat weder Aischylos noch überhaupt ein Athener sagen können. kommt es doch in folge der ungenügenden diplomatischen kritik sogar vor, daſs Triclinius statt der überlieferung als ausgangspunkt genommen wird. die metrische gestaltung wird fast nie begründet, oder es stehen doch machtsprüche statt der gründe; häufig ist die responsion sylbe für sylbe willkürlich erzwungen; nichts als spielerische willkür ist die verteilung der chorpartieen unter die personen, und der procentsatz der gelungenen conjecturen ist keinesweges ein günstiger. kaum minder verderblich ist die groſse zahl ganz unglaublicher härten, welche die erklärung dem dichter und leser zumutet. so steht es. und der erfolg ist nicht aus- geblieben, daſs die masse sich auf die unglücklichen texte stürzte und sie zerriſs und zerfleischte, weil man allerdings nicht Hermann zu sein braucht um so mit einem gedichte umzugehen. Von dem menschenalter, welches auf G. Hermanns tod folgte, ist es schwer anders als mit dem zorne zu reden, der M. Haupt sein köst- liches Elektraprogramm (op. II 286) eingab. in der sintflut von conjec- turen drohten in der tat die tragikertexte völlig zu ertrinken. wenn man sich das treiben ansieht, seine vielgeschäftigkeit, seine selbstgefällig- 15) 15) darunter vereinzeltes richtige, was offen am wege lag. zu einer wirklichen erklärung dieses wie einer ganzen reihe von dramen ist bisher auch noch nicht einmal der grund gelegt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/264>, abgerufen am 28.11.2024.