Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Irrwege und irrwische. keit und seine erfolglosigkeit, so kann man ein grauen nicht verwinden,und man begreift, dass diese manier die philologie in allgemeinen miscredit gebracht hat. wenn diese conjecturerei ihr ziel wäre, so müsste man keinen tag säumen, zu einem ehrlichen handwerke über- zugehen. die tragikertexte sind masslos verdorben, das war die praemisse, die man als axiom hinnahm; beweisen konnte man sie freilich damit, dass man die tragiker tatsächlich nicht zu verstehen vermochte. vor diesem greuel der verderbnis schwand der wert der recensio: das war ja die tücke der überlieferung, dass sie so einheitlich war, das hiess, in dem notorisch falschen übereinstimmte. also giengs frisch mit kühnem sprunge zur emendatio: zu der aber war jeder knabe berufen, und bald war es guter ton, mindestens in den thesen der doctordissertation eine oder die andere tragikerstelle zu heilen. und war es mit dem heilen auch meist nichts, so blieb doch das bewusstsein, eine verderbnis entdeckt zu haben. denn wo nur erst einer anstoss genommen hatte, da kam der zweite, sah dass des vordermannes einfall windig war, musste also einen eignen an seine stelle setzen, und dann kam der dritte, und so fort ohne grazie in infinitum. und da errichteten die zeitschriften für die kurzdärmige vielgeschäftigkeit ihre bedürfnisanstalten, und da kamen die recensionen, die den wert der ausgaben nach der zahl der conjecturen bemassen, und das verkehrte wenigstens anregend, das meinen ins blaue geistreich fanden, und die jahresberichte, welche die conjecturen auszogen, so dass man die bücher nicht mehr zu lesen brauchte. denn die conjectur war selbst- zweck geworden. und wie fein war es bestellt, dass nun jeder sich selbst wahren konnte, oder doch durch die cumpane gewahrt wusste, was an der conjectur das köstlichste ist, die priorität. denn es bildete sich zwar in Holland der comment, du brauchst überhaupt nichts zu kennen noch zu wissen, was deiner conjectur oder ihrer veröffentlichung hinderlich ist, in Deutschland aber der, du brauchst zwar den schriftsteller, in dem du conjicirst, nicht gelesen zu haben, geschweige denn andere, kannst dir auch die belegstellen, die grammatischen und metrischen regeln und beobachtungen, überhaupt jedes wissen, dessen du bedarfst (viel wird es ja nicht sein) ohne wort und ohne dank hernehmen, wo du es findest: aber darum hast du dich zu kümmern, ob nicht compare so und so dir in der conjectur zuvorgekommen ist, sonst befährst du den vorwurf des diebstahls. in seiner ganzen strenge wandten das freilich nur einzelne aus- erlesene an, die in bibliotheken die staubigsten scharteken durchsuchten, von stolz geschwellt, wenn sie einem Porson eine priorität rauben konnten. im ganzen galt der comment wesentlich für die lebenden. denn die Irrwege und irrwische. keit und seine erfolglosigkeit, so kann man ein grauen nicht verwinden,und man begreift, daſs diese manier die philologie in allgemeinen miscredit gebracht hat. wenn diese conjecturerei ihr ziel wäre, so müſste man keinen tag säumen, zu einem ehrlichen handwerke über- zugehen. die tragikertexte sind maſslos verdorben, das war die praemisse, die man als axiom hinnahm; beweisen konnte man sie freilich damit, daſs man die tragiker tatsächlich nicht zu verstehen vermochte. vor diesem greuel der verderbnis schwand der wert der recensio: das war ja die tücke der überlieferung, daſs sie so einheitlich war, das hieſs, in dem notorisch falschen übereinstimmte. also giengs frisch mit kühnem sprunge zur emendatio: zu der aber war jeder knabe berufen, und bald war es guter ton, mindestens in den thesen der doctordissertation eine oder die andere tragikerstelle zu heilen. und war es mit dem heilen auch meist nichts, so blieb doch das bewuſstsein, eine verderbnis entdeckt zu haben. denn wo nur erst einer anstoſs genommen hatte, da kam der zweite, sah daſs des vordermannes einfall windig war, muſste also einen eignen an seine stelle setzen, und dann kam der dritte, und so fort ohne grazie in infinitum. und da errichteten die zeitschriften für die kurzdärmige vielgeschäftigkeit ihre bedürfnisanstalten, und da kamen die recensionen, die den wert der ausgaben nach der zahl der conjecturen bemaſsen, und das verkehrte wenigstens anregend, das meinen ins blaue geistreich fanden, und die jahresberichte, welche die conjecturen auszogen, so daſs man die bücher nicht mehr zu lesen brauchte. denn die conjectur war selbst- zweck geworden. und wie fein war es bestellt, daſs nun jeder sich selbst wahren konnte, oder doch durch die cumpane gewahrt wuſste, was an der conjectur das köstlichste ist, die priorität. denn es bildete sich zwar in Holland der comment, du brauchst überhaupt nichts zu kennen noch zu wissen, was deiner conjectur oder ihrer veröffentlichung hinderlich ist, in Deutschland aber der, du brauchst zwar den schriftsteller, in dem du conjicirst, nicht gelesen zu haben, geschweige denn andere, kannst dir auch die belegstellen, die grammatischen und metrischen regeln und beobachtungen, überhaupt jedes wissen, dessen du bedarfst (viel wird es ja nicht sein) ohne wort und ohne dank hernehmen, wo du es findest: aber darum hast du dich zu kümmern, ob nicht compare so und so dir in der conjectur zuvorgekommen ist, sonst befährst du den vorwurf des diebstahls. in seiner ganzen strenge wandten das freilich nur einzelne aus- erlesene an, die in bibliotheken die staubigsten scharteken durchsuchten, von stolz geschwellt, wenn sie einem Porson eine priorität rauben konnten. im ganzen galt der comment wesentlich für die lebenden. denn die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0265" n="245"/><fw place="top" type="header">Irrwege und irrwische.</fw><lb/> keit und seine erfolglosigkeit, so kann man ein grauen nicht verwinden,<lb/> und man begreift, daſs diese manier die philologie in allgemeinen<lb/> miscredit gebracht hat. wenn diese conjecturerei ihr ziel wäre, so<lb/> müſste man keinen tag säumen, zu einem ehrlichen handwerke über-<lb/> zugehen. die tragikertexte sind maſslos verdorben, das war die praemisse,<lb/> die man als axiom hinnahm; beweisen konnte man sie freilich damit, daſs<lb/> man die tragiker tatsächlich nicht zu verstehen vermochte. vor diesem<lb/> greuel der verderbnis schwand der wert der recensio: das war ja die<lb/> tücke der überlieferung, daſs sie so einheitlich war, das hieſs, in dem<lb/> notorisch falschen übereinstimmte. also giengs frisch mit kühnem sprunge<lb/> zur emendatio: zu der aber war jeder knabe berufen, und bald war es<lb/> guter ton, mindestens in den thesen der doctordissertation eine oder die<lb/> andere tragikerstelle zu heilen. und war es mit dem heilen auch meist<lb/> nichts, so blieb doch das bewuſstsein, eine verderbnis entdeckt zu haben.<lb/> denn wo nur erst einer anstoſs genommen hatte, da kam der zweite,<lb/> sah daſs des vordermannes einfall windig war, muſste also einen eignen<lb/> an seine stelle setzen, und dann kam der dritte, und so fort ohne grazie<lb/> in infinitum. und da errichteten die zeitschriften für die kurzdärmige<lb/> vielgeschäftigkeit ihre bedürfnisanstalten, und da kamen die recensionen,<lb/> die den wert der ausgaben nach der zahl der conjecturen bemaſsen, und<lb/> das verkehrte wenigstens anregend, das meinen ins blaue geistreich fanden,<lb/> und die jahresberichte, welche die conjecturen auszogen, so daſs man<lb/> die bücher nicht mehr zu lesen brauchte. denn die conjectur war selbst-<lb/> zweck geworden. und wie fein war es bestellt, daſs nun jeder sich selbst<lb/> wahren konnte, oder doch durch die cumpane gewahrt wuſste, was an<lb/> der conjectur das köstlichste ist, die priorität. denn es bildete sich zwar<lb/> in Holland der comment, du brauchst überhaupt nichts zu kennen noch<lb/> zu wissen, was deiner conjectur oder ihrer veröffentlichung hinderlich<lb/> ist, in Deutschland aber der, du brauchst zwar den schriftsteller, in dem<lb/> du conjicirst, nicht gelesen zu haben, geschweige denn andere, kannst<lb/> dir auch die belegstellen, die grammatischen und metrischen regeln und<lb/> beobachtungen, überhaupt jedes wissen, dessen du bedarfst (viel wird es<lb/> ja nicht sein) ohne wort und ohne dank hernehmen, wo du es findest:<lb/> aber darum hast du dich zu kümmern, ob nicht compare so und so dir<lb/> in der conjectur zuvorgekommen ist, sonst befährst du den vorwurf des<lb/> diebstahls. in seiner ganzen strenge wandten das freilich nur einzelne aus-<lb/> erlesene an, die in bibliotheken die staubigsten scharteken durchsuchten,<lb/> von stolz geschwellt, wenn sie einem Porson eine priorität rauben konnten.<lb/> im ganzen galt der comment wesentlich für die lebenden. denn die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [245/0265]
Irrwege und irrwische.
keit und seine erfolglosigkeit, so kann man ein grauen nicht verwinden,
und man begreift, daſs diese manier die philologie in allgemeinen
miscredit gebracht hat. wenn diese conjecturerei ihr ziel wäre, so
müſste man keinen tag säumen, zu einem ehrlichen handwerke über-
zugehen. die tragikertexte sind maſslos verdorben, das war die praemisse,
die man als axiom hinnahm; beweisen konnte man sie freilich damit, daſs
man die tragiker tatsächlich nicht zu verstehen vermochte. vor diesem
greuel der verderbnis schwand der wert der recensio: das war ja die
tücke der überlieferung, daſs sie so einheitlich war, das hieſs, in dem
notorisch falschen übereinstimmte. also giengs frisch mit kühnem sprunge
zur emendatio: zu der aber war jeder knabe berufen, und bald war es
guter ton, mindestens in den thesen der doctordissertation eine oder die
andere tragikerstelle zu heilen. und war es mit dem heilen auch meist
nichts, so blieb doch das bewuſstsein, eine verderbnis entdeckt zu haben.
denn wo nur erst einer anstoſs genommen hatte, da kam der zweite,
sah daſs des vordermannes einfall windig war, muſste also einen eignen
an seine stelle setzen, und dann kam der dritte, und so fort ohne grazie
in infinitum. und da errichteten die zeitschriften für die kurzdärmige
vielgeschäftigkeit ihre bedürfnisanstalten, und da kamen die recensionen,
die den wert der ausgaben nach der zahl der conjecturen bemaſsen, und
das verkehrte wenigstens anregend, das meinen ins blaue geistreich fanden,
und die jahresberichte, welche die conjecturen auszogen, so daſs man
die bücher nicht mehr zu lesen brauchte. denn die conjectur war selbst-
zweck geworden. und wie fein war es bestellt, daſs nun jeder sich selbst
wahren konnte, oder doch durch die cumpane gewahrt wuſste, was an
der conjectur das köstlichste ist, die priorität. denn es bildete sich zwar
in Holland der comment, du brauchst überhaupt nichts zu kennen noch
zu wissen, was deiner conjectur oder ihrer veröffentlichung hinderlich
ist, in Deutschland aber der, du brauchst zwar den schriftsteller, in dem
du conjicirst, nicht gelesen zu haben, geschweige denn andere, kannst
dir auch die belegstellen, die grammatischen und metrischen regeln und
beobachtungen, überhaupt jedes wissen, dessen du bedarfst (viel wird es
ja nicht sein) ohne wort und ohne dank hernehmen, wo du es findest:
aber darum hast du dich zu kümmern, ob nicht compare so und so dir
in der conjectur zuvorgekommen ist, sonst befährst du den vorwurf des
diebstahls. in seiner ganzen strenge wandten das freilich nur einzelne aus-
erlesene an, die in bibliotheken die staubigsten scharteken durchsuchten,
von stolz geschwellt, wenn sie einem Porson eine priorität rauben konnten.
im ganzen galt der comment wesentlich für die lebenden. denn die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |