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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
befriedigung der eignen eitelkeit, die betätigung des eignen scharfsinns,
wenns hoch kommt, der triumph der methode, das ist doch der zweck
des kritischen bestrebens. der dichter ist längst ein stiller mann und
hat seinen ruhm: aber das moderne menschlein will den seinen erst haben,
und wahrhaftig, gönnen kann man ihm das licht, das räumlich und zeit-
lich eine conjectur ausstrahlt. freilich sollte sie dazu eigentlich richtig
sein. aber ob sie das ist, wer weiss es? die wahrheit überhaupt --
was ist wahrheit? wenn die echte doch nicht erreichbar ist, nimmt man
die provisorische. ja wol, zu der entsetzlichsten unsittlichkeit führt dieses
getriebe in seiner letzten consequenz. unzweifelhaft waren davon die
meisten weit entfernt, die sich am Sophokles vergiengen, harmlose knaben,
meirakullia a phrouda thatton en monon khoron labe, apax pro-
souresanta te tragodia. und im grunde war es auch noch harmlos,
wenn ab und an ein grauer knabe die regenwürmer, die er in einem
langen leben gefunden, in tönnlein sammelte und als schätze auf den
markt brachte. den meisten kam im ernste des lebens die ernüchterung;
freilich übertrugen sie dann den ekel an dem eitelen spiele zumeist auf die
wissenschaft, der so ihre arbeit verloren gieng. aber es fehlt nicht an
beispielen dafür, dass solche, die wol die fähigkeit gehabt hätten, nütz-
liches zu wirken, erst den charakter und dann das talent eingebüsst haben.
und ein solcher kann unendlichen unsegen stiften.

Dass die gegenwart fruchtbarer wäre, ist kaum zu behaupten; aber
wol darf man das hitzige fieber der änderungswut als überwunden an-
sehen. die mode hat gewechselt; die überfülle selbst hat ekel erzeugt.
als die ausgabe von Sophokles Elektra, welche Haupt zu seinem zorn-
ausbruche veranlassung gegeben hatte, in dritter auflage erschien, war
es praktisch undurchführbar, alle conjecturen unter dem texte unter-
zubringen; sie wurden in einen anhang gesperrt, und man vermisst nur
die motivirung des herausgebers ab ipso libelli possessore, si offendant, ut
rescindantur
, wie Schmeller sagte, als er die anstössigen stellen der Car-
mina Burana auf dem letzten blatte abgesondert druckte. so harmlos
sind die Sophoklesconjecturen nicht, aber sie sind nun im Orcus, und
in den steigt nicht so leicht einer hinab. wer einen text fertig stellt,
der wird noch eine weile sich umtun, ob er für die abweichungen von
der überlieferung, die er nötig findet, einen fremden namen nennen soll,
und er wird das gern tun, auch wenn er die verderbnis aus eigener
kraft erkannt und gehoben hat 16); er wird aber auch nicht vergessen,

16) Ich habe, als ich meine ausgabe des Agamemnon für den druck fertig
stellte, an 30--40 stellen eine eigene conjectur an einen andern namen abgetreten;

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
befriedigung der eignen eitelkeit, die betätigung des eignen scharfsinns,
wenns hoch kommt, der triumph der methode, das ist doch der zweck
des kritischen bestrebens. der dichter ist längst ein stiller mann und
hat seinen ruhm: aber das moderne menschlein will den seinen erst haben,
und wahrhaftig, gönnen kann man ihm das licht, das räumlich und zeit-
lich eine conjectur ausstrahlt. freilich sollte sie dazu eigentlich richtig
sein. aber ob sie das ist, wer weiſs es? die wahrheit überhaupt —
was ist wahrheit? wenn die echte doch nicht erreichbar ist, nimmt man
die provisorische. ja wol, zu der entsetzlichsten unsittlichkeit führt dieses
getriebe in seiner letzten consequenz. unzweifelhaft waren davon die
meisten weit entfernt, die sich am Sophokles vergiengen, harmlose knaben,
μειρακύλλια ἃ φροῦδα ϑᾶττον ἢν μόνον χορὸν λάβη, ἅπαξ προ-
σουρήσαντα τῇ τραγῳδίᾳ. und im grunde war es auch noch harmlos,
wenn ab und an ein grauer knabe die regenwürmer, die er in einem
langen leben gefunden, in tönnlein sammelte und als schätze auf den
markt brachte. den meisten kam im ernste des lebens die ernüchterung;
freilich übertrugen sie dann den ekel an dem eitelen spiele zumeist auf die
wissenschaft, der so ihre arbeit verloren gieng. aber es fehlt nicht an
beispielen dafür, daſs solche, die wol die fähigkeit gehabt hätten, nütz-
liches zu wirken, erst den charakter und dann das talent eingebüſst haben.
und ein solcher kann unendlichen unsegen stiften.

Daſs die gegenwart fruchtbarer wäre, ist kaum zu behaupten; aber
wol darf man das hitzige fieber der änderungswut als überwunden an-
sehen. die mode hat gewechselt; die überfülle selbst hat ekel erzeugt.
als die ausgabe von Sophokles Elektra, welche Haupt zu seinem zorn-
ausbruche veranlassung gegeben hatte, in dritter auflage erschien, war
es praktisch undurchführbar, alle conjecturen unter dem texte unter-
zubringen; sie wurden in einen anhang gesperrt, und man vermiſst nur
die motivirung des herausgebers ab ipso libelli possessore, si offendant, ut
rescindantur
, wie Schmeller sagte, als er die anstöſsigen stellen der Car-
mina Burana auf dem letzten blatte abgesondert druckte. so harmlos
sind die Sophoklesconjecturen nicht, aber sie sind nun im Orcus, und
in den steigt nicht so leicht einer hinab. wer einen text fertig stellt,
der wird noch eine weile sich umtun, ob er für die abweichungen von
der überlieferung, die er nötig findet, einen fremden namen nennen soll,
und er wird das gern tun, auch wenn er die verderbnis aus eigener
kraft erkannt und gehoben hat 16); er wird aber auch nicht vergessen,

16) Ich habe, als ich meine ausgabe des Agamemnon für den druck fertig
stellte, an 30—40 stellen eine eigene conjectur an einen andern namen abgetreten;
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[246/0266] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. befriedigung der eignen eitelkeit, die betätigung des eignen scharfsinns, wenns hoch kommt, der triumph der methode, das ist doch der zweck des kritischen bestrebens. der dichter ist längst ein stiller mann und hat seinen ruhm: aber das moderne menschlein will den seinen erst haben, und wahrhaftig, gönnen kann man ihm das licht, das räumlich und zeit- lich eine conjectur ausstrahlt. freilich sollte sie dazu eigentlich richtig sein. aber ob sie das ist, wer weiſs es? die wahrheit überhaupt — was ist wahrheit? wenn die echte doch nicht erreichbar ist, nimmt man die provisorische. ja wol, zu der entsetzlichsten unsittlichkeit führt dieses getriebe in seiner letzten consequenz. unzweifelhaft waren davon die meisten weit entfernt, die sich am Sophokles vergiengen, harmlose knaben, μειρακύλλια ἃ φροῦδα ϑᾶττον ἢν μόνον χορὸν λάβη, ἅπαξ προ- σουρήσαντα τῇ τραγῳδίᾳ. und im grunde war es auch noch harmlos, wenn ab und an ein grauer knabe die regenwürmer, die er in einem langen leben gefunden, in tönnlein sammelte und als schätze auf den markt brachte. den meisten kam im ernste des lebens die ernüchterung; freilich übertrugen sie dann den ekel an dem eitelen spiele zumeist auf die wissenschaft, der so ihre arbeit verloren gieng. aber es fehlt nicht an beispielen dafür, daſs solche, die wol die fähigkeit gehabt hätten, nütz- liches zu wirken, erst den charakter und dann das talent eingebüſst haben. und ein solcher kann unendlichen unsegen stiften. Daſs die gegenwart fruchtbarer wäre, ist kaum zu behaupten; aber wol darf man das hitzige fieber der änderungswut als überwunden an- sehen. die mode hat gewechselt; die überfülle selbst hat ekel erzeugt. als die ausgabe von Sophokles Elektra, welche Haupt zu seinem zorn- ausbruche veranlassung gegeben hatte, in dritter auflage erschien, war es praktisch undurchführbar, alle conjecturen unter dem texte unter- zubringen; sie wurden in einen anhang gesperrt, und man vermiſst nur die motivirung des herausgebers ab ipso libelli possessore, si offendant, ut rescindantur, wie Schmeller sagte, als er die anstöſsigen stellen der Car- mina Burana auf dem letzten blatte abgesondert druckte. so harmlos sind die Sophoklesconjecturen nicht, aber sie sind nun im Orcus, und in den steigt nicht so leicht einer hinab. wer einen text fertig stellt, der wird noch eine weile sich umtun, ob er für die abweichungen von der überlieferung, die er nötig findet, einen fremden namen nennen soll, und er wird das gern tun, auch wenn er die verderbnis aus eigener kraft erkannt und gehoben hat 16); er wird aber auch nicht vergessen, 16) Ich habe, als ich meine ausgabe des Agamemnon für den druck fertig stellte, an 30—40 stellen eine eigene conjectur an einen andern namen abgetreten;

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/266>, abgerufen am 29.11.2024.