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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Irrwege und irrwische.
dass er die verantwortung für den ganzen text trägt, mag er von der
überlieferung abweichen oder nicht, und dass es nur eine mode ist, dass
wir in einer textausgabe die urheber der einzelnen gedanken nennen,
wenn sie eine abweichung vom überlieferten einschliessen, während wir
die verteidiger und retter der überlieferung verschweigen und z. b. eine dar-
stellung staatsrechtlicher oder geschichtlicher oder grammatischer art rein
sachlich halten. über kurz oder lang wird sich auch manches ändern;
mancher name wird bald ein leerer schall sein, und vielleicht ist der tag
nicht so fern, wo wir alle, grosse und geringe kritiker, unter einem
collectivnamen zusammengefasst werden, wie die Itali in der kritik latei-
nischer dichter. denn wir sind dazu da, das gedächtnis der grossen dichter
lebendig zu erhalten, nicht das unserer collegen noch das eigene.

Das conjecturenmachen ist also aus der mode gekommen, und so
viel feines und wahres die führenden männer auch gesagt haben, die
diesen umschwung inaugurirt haben, so darf man doch mehr als ihrer
lehre dem zuge der zeit diesen erfolg zuschreiben, um so mehr als sich
sofort die entgegengesetzte gefahr gezeigt hat, das kalte fieber der reac-
tionären verteidigung des überlieferten, weil es nun einmal überliefert ist
oder scheint. diese gefahr ist jetzt die dringendere und wird es noch
mehr werden; schon kann ein aufmerksamer beobachter merken wie
die führer, d. h. in wahrheit die sclaven der "öffentlichen meinung"
sich anschicken, farbe und gesinnung zu wechseln, und die moderne
rhythmik verwendet ihre kautschukparagraphen schon zur rettung metri-
scher ungeheuer. auf dem spiele steht nicht weniger als der ganze
gewinn der Porson-Hermannschen periode, sowol auf metrischem wie
auf sprachlichem gebiete: wenn kaitoige dem fünften jahrhundert zu-
getraut wird, wenn dem Euripides unterstellt wird optativ und con-
junctiv in demselben finalsatz gebraucht zu haben, und dem Sophokles
vollends dromon diaulon pentaethl a nomizetai als iambischen tri-
meter ausgegeben zu haben, so muss man darauf gefasst sein, für die
berechtigung der analogie und der conjectur fechten zu müssen. das
liegt vollends im wesen jeder reaction, dass sie als solche nur in der
negative heilsam wirken kann: neues leben schafft sie nicht, neue ge-
danken liefert sie nicht, und deren bedarf die tragikerkritik. schon vor

darunter manche, die mir gehört haben würden, wenn ich es mit der veröffentlichung
eiliger gehabt hätte. das gehörte sich so. an 2 oder 3 stellen habe ich einen vor-
gänger nicht gekannt, und das ist mir zum verbrechen gerechnet. das gehörte sich
auch so.

Irrwege und irrwische.
daſs er die verantwortung für den ganzen text trägt, mag er von der
überlieferung abweichen oder nicht, und daſs es nur eine mode ist, daſs
wir in einer textausgabe die urheber der einzelnen gedanken nennen,
wenn sie eine abweichung vom überlieferten einschlieſsen, während wir
die verteidiger und retter der überlieferung verschweigen und z. b. eine dar-
stellung staatsrechtlicher oder geschichtlicher oder grammatischer art rein
sachlich halten. über kurz oder lang wird sich auch manches ändern;
mancher name wird bald ein leerer schall sein, und vielleicht ist der tag
nicht so fern, wo wir alle, groſse und geringe kritiker, unter einem
collectivnamen zusammengefaſst werden, wie die Itali in der kritik latei-
nischer dichter. denn wir sind dazu da, das gedächtnis der groſsen dichter
lebendig zu erhalten, nicht das unserer collegen noch das eigene.

Das conjecturenmachen ist also aus der mode gekommen, und so
viel feines und wahres die führenden männer auch gesagt haben, die
diesen umschwung inaugurirt haben, so darf man doch mehr als ihrer
lehre dem zuge der zeit diesen erfolg zuschreiben, um so mehr als sich
sofort die entgegengesetzte gefahr gezeigt hat, das kalte fieber der reac-
tionären verteidigung des überlieferten, weil es nun einmal überliefert ist
oder scheint. diese gefahr ist jetzt die dringendere und wird es noch
mehr werden; schon kann ein aufmerksamer beobachter merken wie
die führer, d. h. in wahrheit die sclaven der “öffentlichen meinung”
sich anschicken, farbe und gesinnung zu wechseln, und die moderne
rhythmik verwendet ihre kautschukparagraphen schon zur rettung metri-
scher ungeheuer. auf dem spiele steht nicht weniger als der ganze
gewinn der Porson-Hermannschen periode, sowol auf metrischem wie
auf sprachlichem gebiete: wenn καίτοιγε dem fünften jahrhundert zu-
getraut wird, wenn dem Euripides unterstellt wird optativ und con-
junctiv in demselben finalsatz gebraucht zu haben, und dem Sophokles
vollends δρόμων διαύλων πεντάεϑλ̕ ἃ νομίζεται als iambischen tri-
meter ausgegeben zu haben, so muſs man darauf gefaſst sein, für die
berechtigung der analogie und der conjectur fechten zu müssen. das
liegt vollends im wesen jeder reaction, daſs sie als solche nur in der
negative heilsam wirken kann: neues leben schafft sie nicht, neue ge-
danken liefert sie nicht, und deren bedarf die tragikerkritik. schon vor

darunter manche, die mir gehört haben würden, wenn ich es mit der veröffentlichung
eiliger gehabt hätte. das gehörte sich so. an 2 oder 3 stellen habe ich einen vor-
gänger nicht gekannt, und das ist mir zum verbrechen gerechnet. das gehörte sich
auch so.
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[247/0267] Irrwege und irrwische. daſs er die verantwortung für den ganzen text trägt, mag er von der überlieferung abweichen oder nicht, und daſs es nur eine mode ist, daſs wir in einer textausgabe die urheber der einzelnen gedanken nennen, wenn sie eine abweichung vom überlieferten einschlieſsen, während wir die verteidiger und retter der überlieferung verschweigen und z. b. eine dar- stellung staatsrechtlicher oder geschichtlicher oder grammatischer art rein sachlich halten. über kurz oder lang wird sich auch manches ändern; mancher name wird bald ein leerer schall sein, und vielleicht ist der tag nicht so fern, wo wir alle, groſse und geringe kritiker, unter einem collectivnamen zusammengefaſst werden, wie die Itali in der kritik latei- nischer dichter. denn wir sind dazu da, das gedächtnis der groſsen dichter lebendig zu erhalten, nicht das unserer collegen noch das eigene. Das conjecturenmachen ist also aus der mode gekommen, und so viel feines und wahres die führenden männer auch gesagt haben, die diesen umschwung inaugurirt haben, so darf man doch mehr als ihrer lehre dem zuge der zeit diesen erfolg zuschreiben, um so mehr als sich sofort die entgegengesetzte gefahr gezeigt hat, das kalte fieber der reac- tionären verteidigung des überlieferten, weil es nun einmal überliefert ist oder scheint. diese gefahr ist jetzt die dringendere und wird es noch mehr werden; schon kann ein aufmerksamer beobachter merken wie die führer, d. h. in wahrheit die sclaven der “öffentlichen meinung” sich anschicken, farbe und gesinnung zu wechseln, und die moderne rhythmik verwendet ihre kautschukparagraphen schon zur rettung metri- scher ungeheuer. auf dem spiele steht nicht weniger als der ganze gewinn der Porson-Hermannschen periode, sowol auf metrischem wie auf sprachlichem gebiete: wenn καίτοιγε dem fünften jahrhundert zu- getraut wird, wenn dem Euripides unterstellt wird optativ und con- junctiv in demselben finalsatz gebraucht zu haben, und dem Sophokles vollends δρόμων διαύλων πεντάεϑλ̕ ἃ νομίζεται als iambischen tri- meter ausgegeben zu haben, so muſs man darauf gefaſst sein, für die berechtigung der analogie und der conjectur fechten zu müssen. das liegt vollends im wesen jeder reaction, daſs sie als solche nur in der negative heilsam wirken kann: neues leben schafft sie nicht, neue ge- danken liefert sie nicht, und deren bedarf die tragikerkritik. schon vor 16) 16) darunter manche, die mir gehört haben würden, wenn ich es mit der veröffentlichung eiliger gehabt hätte. das gehörte sich so. an 2 oder 3 stellen habe ich einen vor- gänger nicht gekannt, und das ist mir zum verbrechen gerechnet. das gehörte sich auch so.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/267>, abgerufen am 29.11.2024.