Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Das leben des Euripides. war, wie er schon im Kresphontes eins gedichtet hatte, das selbst desAristophanes beifall fand. der friede aber lag nicht in Alkibiades sinne: nacht muss es sein, wo die sterne des tyrannen stralen. und so sehen wir den staatsmann die sicilische expedition vorbereiten, während der dichter seine troische tetralogie damit schliesst, dass die stolzeste flotte hineinfährt in das sichere verderben. diesmal war er ein prophet gewesen. geglaubt hatte man ihm so wenig wie dem grossen mathematiker Meton; aber man erinnerte sich seiner nach der entsetzlichen erfüllung. es ist bezeichnend, dass 412 die Athener den greisen Sophokles in das neu- gestiftete zehnmännercolleg von probulen wählten: der sollte den peri- kleischen geist zurückrufen; aber er war schwach geworden und gab den oligarchen, obwol er aufrichtiger demokrat war, das heft in die hände. Euripides aber erhielt den auftrag, das epigramm für das riesengrab zu machen, das auf dem staatsfriedhof für das gedächtnis der tausende er- richtet ward, die im fernen westen für das vaterland gestorben waren 20). zu handeln traute man ihm nicht zu, wol aber aus der seele seines volkes zu reden. aber es waren nur einzelne momente noch, wo alles, was Athen noch besass, im gemeinsamen vaterlandsgefühle sich zusam- menfand. das entsetzliche, das über allen häuptern schwebte, und die widerstreitenden gefühle, die es erregte, scham und stolz, heroismus und verzweiflung gewannen allzurasch wieder die oberhand in den seelen des nur allzu vollblütigen Athenervolkes. es ist als überkäme sie alle ein bakchischer taumel, dass sie wider einander, wider alles was gross im vaterlande ist, wider sich selbst wüten, und schliesslich daran zu grunde gehen. auch die euripideischen dramen dieser zeit sind wie im fieber geschrieben. zwar die zeitereignisse selbst berührt er höchstens im vorübergehen, wenn ihn schmerz oder zorn einmal übermannt. und das erkennt man wol, dass ihn ein tiefer abscheu gegen die radicale demokratie erfüllt 21), was ihm dann den vorwurf oligarchischer gesinnung eingetragen hat, den Aristophanes, obwol er ihn mehr verdiente, weiter- 20) Plut. Nik. 17. auch Helen. 398 enthält einen zug, den nur dieser katalog der gefallenen verständlich macht, zumal im jahre 412. Menelaos sagt 'wir können jetzt die toten zählen und die überlebenden, die die namen der toten nach hause bringen'. also die einen sind verzeichnet, die andern sind arithmetoi apo pollon. 21) Dass die heftige schilderung eines demagogen, Or. 772, dem Kleophon gilt,
hat Philochoros wol selbst angemerkt (schol. 371, 772, 903). derselbe hatte im Ixion eine beziehung auf den tod des Protagoras gefunden, was wir nicht mehr controlliren können, aber natürlich nicht bezweifeln dürfen. (Diog. Laert. IX 55.) Phoin. 783 schildert das Dionysosfest im belagerten Athen. Das leben des Euripides. war, wie er schon im Kresphontes eins gedichtet hatte, das selbst desAristophanes beifall fand. der friede aber lag nicht in Alkibiades sinne: nacht muſs es sein, wo die sterne des tyrannen stralen. und so sehen wir den staatsmann die sicilische expedition vorbereiten, während der dichter seine troische tetralogie damit schlieſst, daſs die stolzeste flotte hineinfährt in das sichere verderben. diesmal war er ein prophet gewesen. geglaubt hatte man ihm so wenig wie dem groſsen mathematiker Meton; aber man erinnerte sich seiner nach der entsetzlichen erfüllung. es ist bezeichnend, daſs 412 die Athener den greisen Sophokles in das neu- gestiftete zehnmännercolleg von probulen wählten: der sollte den peri- kleischen geist zurückrufen; aber er war schwach geworden und gab den oligarchen, obwol er aufrichtiger demokrat war, das heft in die hände. Euripides aber erhielt den auftrag, das epigramm für das riesengrab zu machen, das auf dem staatsfriedhof für das gedächtnis der tausende er- richtet ward, die im fernen westen für das vaterland gestorben waren 20). zu handeln traute man ihm nicht zu, wol aber aus der seele seines volkes zu reden. aber es waren nur einzelne momente noch, wo alles, was Athen noch besaſs, im gemeinsamen vaterlandsgefühle sich zusam- menfand. das entsetzliche, das über allen häuptern schwebte, und die widerstreitenden gefühle, die es erregte, scham und stolz, heroismus und verzweiflung gewannen allzurasch wieder die oberhand in den seelen des nur allzu vollblütigen Athenervolkes. es ist als überkäme sie alle ein bakchischer taumel, daſs sie wider einander, wider alles was groſs im vaterlande ist, wider sich selbst wüten, und schlieſslich daran zu grunde gehen. auch die euripideischen dramen dieser zeit sind wie im fieber geschrieben. zwar die zeitereignisse selbst berührt er höchstens im vorübergehen, wenn ihn schmerz oder zorn einmal übermannt. und das erkennt man wol, daſs ihn ein tiefer abscheu gegen die radicale demokratie erfüllt 21), was ihm dann den vorwurf oligarchischer gesinnung eingetragen hat, den Aristophanes, obwol er ihn mehr verdiente, weiter- 20) Plut. Nik. 17. auch Helen. 398 enthält einen zug, den nur dieser katalog der gefallenen verständlich macht, zumal im jahre 412. Menelaos sagt ‘wir können jetzt die toten zählen und die überlebenden, die die namen der toten nach hause bringen’. also die einen sind verzeichnet, die andern sind ἀριϑμητοὶ ἀπὸ πολλῶν. 21) Daſs die heftige schilderung eines demagogen, Or. 772, dem Kleophon gilt,
hat Philochoros wol selbst angemerkt (schol. 371, 772, 903). derselbe hatte im Ixion eine beziehung auf den tod des Protagoras gefunden, was wir nicht mehr controlliren können, aber natürlich nicht bezweifeln dürfen. (Diog. Laert. IX 55.) Phoin. 783 schildert das Dionysosfest im belagerten Athen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0034" n="14"/><fw place="top" type="header">Das leben des Euripides.</fw><lb/> war, wie er schon im Kresphontes eins gedichtet hatte, das selbst des<lb/> Aristophanes beifall fand. der friede aber lag nicht in Alkibiades sinne:<lb/> nacht muſs es sein, wo die sterne des tyrannen stralen. und so sehen<lb/> wir den staatsmann die sicilische expedition vorbereiten, während der<lb/> dichter seine troische tetralogie damit schlieſst, daſs die stolzeste flotte<lb/> hineinfährt in das sichere verderben. diesmal war er ein prophet gewesen.<lb/> geglaubt hatte man ihm so wenig wie dem groſsen mathematiker Meton;<lb/> aber man erinnerte sich seiner nach der entsetzlichen erfüllung. es ist<lb/> bezeichnend, daſs 412 die Athener den greisen Sophokles in das neu-<lb/> gestiftete zehnmännercolleg von probulen wählten: der sollte den peri-<lb/> kleischen geist zurückrufen; aber er war schwach geworden und gab<lb/> den oligarchen, obwol er aufrichtiger demokrat war, das heft in die hände.<lb/> Euripides aber erhielt den auftrag, das epigramm für das riesengrab zu<lb/> machen, das auf dem staatsfriedhof für das gedächtnis der tausende er-<lb/> richtet ward, die im fernen westen für das vaterland gestorben waren <note place="foot" n="20)">Plut. Nik. 17. auch Helen. 398 enthält einen zug, den nur dieser katalog<lb/> der gefallenen verständlich macht, zumal im jahre 412. Menelaos sagt ‘wir können<lb/> jetzt die toten zählen und die überlebenden, die die namen der toten nach hause<lb/> bringen’. also die einen sind verzeichnet, die andern sind ἀριϑμητοὶ ἀπὸ πολλῶν.</note>.<lb/> zu handeln traute man ihm nicht zu, wol aber aus der seele seines<lb/> volkes zu reden. aber es waren nur einzelne momente noch, wo alles,<lb/> was Athen noch besaſs, im gemeinsamen vaterlandsgefühle sich zusam-<lb/> menfand. das entsetzliche, das über allen häuptern schwebte, und die<lb/> widerstreitenden gefühle, die es erregte, scham und stolz, heroismus und<lb/> verzweiflung gewannen allzurasch wieder die oberhand in den seelen<lb/> des nur allzu vollblütigen Athenervolkes. es ist als überkäme sie alle<lb/> ein bakchischer taumel, daſs sie wider einander, wider alles was groſs<lb/> im vaterlande ist, wider sich selbst wüten, und schlieſslich daran zu<lb/> grunde gehen. auch die euripideischen dramen dieser zeit sind wie im<lb/> fieber geschrieben. zwar die zeitereignisse selbst berührt er höchstens<lb/> im vorübergehen, wenn ihn schmerz oder zorn einmal übermannt. und<lb/> das erkennt man wol, daſs ihn ein tiefer abscheu gegen die radicale<lb/> demokratie erfüllt <note place="foot" n="21)">Daſs die heftige schilderung eines demagogen, Or. 772, dem Kleophon gilt,<lb/> hat Philochoros wol selbst angemerkt (schol. 371, 772, 903). derselbe hatte im Ixion<lb/> eine beziehung auf den tod des Protagoras gefunden, was wir nicht mehr controlliren<lb/> können, aber natürlich nicht bezweifeln dürfen. (Diog. Laert. IX 55.) Phoin. 783<lb/> schildert das Dionysosfest im belagerten Athen.</note>, was ihm dann den vorwurf oligarchischer gesinnung<lb/> eingetragen hat, den Aristophanes, obwol er ihn mehr verdiente, weiter-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0034]
Das leben des Euripides.
war, wie er schon im Kresphontes eins gedichtet hatte, das selbst des
Aristophanes beifall fand. der friede aber lag nicht in Alkibiades sinne:
nacht muſs es sein, wo die sterne des tyrannen stralen. und so sehen
wir den staatsmann die sicilische expedition vorbereiten, während der
dichter seine troische tetralogie damit schlieſst, daſs die stolzeste flotte
hineinfährt in das sichere verderben. diesmal war er ein prophet gewesen.
geglaubt hatte man ihm so wenig wie dem groſsen mathematiker Meton;
aber man erinnerte sich seiner nach der entsetzlichen erfüllung. es ist
bezeichnend, daſs 412 die Athener den greisen Sophokles in das neu-
gestiftete zehnmännercolleg von probulen wählten: der sollte den peri-
kleischen geist zurückrufen; aber er war schwach geworden und gab
den oligarchen, obwol er aufrichtiger demokrat war, das heft in die hände.
Euripides aber erhielt den auftrag, das epigramm für das riesengrab zu
machen, das auf dem staatsfriedhof für das gedächtnis der tausende er-
richtet ward, die im fernen westen für das vaterland gestorben waren 20).
zu handeln traute man ihm nicht zu, wol aber aus der seele seines
volkes zu reden. aber es waren nur einzelne momente noch, wo alles,
was Athen noch besaſs, im gemeinsamen vaterlandsgefühle sich zusam-
menfand. das entsetzliche, das über allen häuptern schwebte, und die
widerstreitenden gefühle, die es erregte, scham und stolz, heroismus und
verzweiflung gewannen allzurasch wieder die oberhand in den seelen
des nur allzu vollblütigen Athenervolkes. es ist als überkäme sie alle
ein bakchischer taumel, daſs sie wider einander, wider alles was groſs
im vaterlande ist, wider sich selbst wüten, und schlieſslich daran zu
grunde gehen. auch die euripideischen dramen dieser zeit sind wie im
fieber geschrieben. zwar die zeitereignisse selbst berührt er höchstens
im vorübergehen, wenn ihn schmerz oder zorn einmal übermannt. und
das erkennt man wol, daſs ihn ein tiefer abscheu gegen die radicale
demokratie erfüllt 21), was ihm dann den vorwurf oligarchischer gesinnung
eingetragen hat, den Aristophanes, obwol er ihn mehr verdiente, weiter-
20) Plut. Nik. 17. auch Helen. 398 enthält einen zug, den nur dieser katalog
der gefallenen verständlich macht, zumal im jahre 412. Menelaos sagt ‘wir können
jetzt die toten zählen und die überlebenden, die die namen der toten nach hause
bringen’. also die einen sind verzeichnet, die andern sind ἀριϑμητοὶ ἀπὸ πολλῶν.
21) Daſs die heftige schilderung eines demagogen, Or. 772, dem Kleophon gilt,
hat Philochoros wol selbst angemerkt (schol. 371, 772, 903). derselbe hatte im Ixion
eine beziehung auf den tod des Protagoras gefunden, was wir nicht mehr controlliren
können, aber natürlich nicht bezweifeln dürfen. (Diog. Laert. IX 55.) Phoin. 783
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