Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Lebensführung. zugeben nicht unterlässt 22). aber das gebiet, auf welchem der dichterdie von aussen an ihn dringenden erschütterungen mit sich und vor dem publicum durchkämpft, ist das poetische. auch er lässt, wie sein volk, nichts unversucht und rüttelt an den gesetzen seiner kunst wie an ketten. jetzt erst wird er der Euripides, den wir im bilde schauen und der als typus im gedächtnis der Hellenen fortlebte, bitter und menschenverachtend, jede leidenschaft aufwühlend, ohne je zur befriedigung zu kommen, und daneben in kalter dialektik den schönen schein zersetzend, unter dem sich die nichtigkeit alles irdischen verbirgt. die zeitgenossen empfanden es, dass er sie verachtete und doch als geborner lehrer des volkes beherrschte und beherrschen wollte. die meute der komiker stürzte sich wider ihn, und diesen, nicht ihm fielen die siegerkränze zu. er gab auch ihnen mit bittrem worte die antwort 23), er trug in der Antiope mit seiner ganzen kraft, der dialektischen wie der pathetischen, das eigenlob des theore- tikos bios vor: aber dann gab er das spiel selbst verloren, gab auch das vaterland verloren und wanderte aus. Die götter waren immer freundlich gewesen gegen Sophokles. schön- 22) Frö. 952. wir haben kein mittel, festzustellen, wieso man in früher zeit dazu gekommen ist, eine tetralogie des Kritias, die also wahrscheinlich in den letzten lebensjahren des Euripides gegeben ist, diesem zuzuschreiben. wenn die didaskalien ihn mannten, so hatte er dem Kritias einen freundschaftsdienst getan, und das er- weckt dann weitere perspectiven auf die Kreise zu denen er sich hielt. aber ebenso- gut können die didaskalien Kritias genannt haben, und nur stil und gedanken und der fluch, der auf dem gedächtnis des tyrannen lag, den irrtum der nächsten gene- ration bewirkt haben. Kritias ist ein so bedeutender mensch, dass man an sich einen verkehr ganz gern glauben würde. 23) In der zweiten Melanippe 495 miso geloious oitines tetei (lies tete: das
fordert tetan) sophon akhalin ekhousi stomata kas andron men ou telousin ari- thmon, en geloti d euprepeis oikousin oikous. Lebensführung. zugeben nicht unterläſst 22). aber das gebiet, auf welchem der dichterdie von auſsen an ihn dringenden erschütterungen mit sich und vor dem publicum durchkämpft, ist das poetische. auch er läſst, wie sein volk, nichts unversucht und rüttelt an den gesetzen seiner kunst wie an ketten. jetzt erst wird er der Euripides, den wir im bilde schauen und der als typus im gedächtnis der Hellenen fortlebte, bitter und menschenverachtend, jede leidenschaft aufwühlend, ohne je zur befriedigung zu kommen, und daneben in kalter dialektik den schönen schein zersetzend, unter dem sich die nichtigkeit alles irdischen verbirgt. die zeitgenossen empfanden es, daſs er sie verachtete und doch als geborner lehrer des volkes beherrschte und beherrschen wollte. die meute der komiker stürzte sich wider ihn, und diesen, nicht ihm fielen die siegerkränze zu. er gab auch ihnen mit bittrem worte die antwort 23), er trug in der Antiope mit seiner ganzen kraft, der dialektischen wie der pathetischen, das eigenlob des ϑεωρη- τικὸς βίος vor: aber dann gab er das spiel selbst verloren, gab auch das vaterland verloren und wanderte aus. Die götter waren immer freundlich gewesen gegen Sophokles. schön- 22) Frö. 952. wir haben kein mittel, festzustellen, wieso man in früher zeit dazu gekommen ist, eine tetralogie des Kritias, die also wahrscheinlich in den letzten lebensjahren des Euripides gegeben ist, diesem zuzuschreiben. wenn die didaskalien ihn mannten, so hatte er dem Kritias einen freundschaftsdienst getan, und das er- weckt dann weitere perspectiven auf die Kreise zu denen er sich hielt. aber ebenso- gut können die didaskalien Kritias genannt haben, und nur stil und gedanken und der fluch, der auf dem gedächtnis des tyrannen lag, den irrtum der nächsten gene- ration bewirkt haben. Kritias ist ein so bedeutender mensch, daſs man an sich einen verkehr ganz gern glauben würde. 23) In der zweiten Melanippe 495 μισῶ γελοίους οἵτινες τήτει (lies τήτῃ: das
fordert τητᾶν) σοφῶν ἀχάλιν̕ ἔχουσι στόματα κἀς ἀνδρῶν μὲν οὐ τελοῦσιν ἀρι- ϑμόν, ἐν γέλωτι δ̕ εὐπρεπεῖς οἰκοῦσιν οἴκους. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0035" n="15"/><fw place="top" type="header">Lebensführung.</fw><lb/> zugeben nicht unterläſst <note place="foot" n="22)">Frö. 952. wir haben kein mittel, festzustellen, wieso man in früher zeit<lb/> dazu gekommen ist, eine tetralogie des Kritias, die also wahrscheinlich in den letzten<lb/> lebensjahren des Euripides gegeben ist, diesem zuzuschreiben. wenn die didaskalien<lb/> ihn mannten, so hatte er dem Kritias einen freundschaftsdienst getan, und das er-<lb/> weckt dann weitere perspectiven auf die Kreise zu denen er sich hielt. aber ebenso-<lb/> gut können die didaskalien Kritias genannt haben, und nur stil und gedanken und<lb/> der fluch, der auf dem gedächtnis des tyrannen lag, den irrtum der nächsten gene-<lb/> ration bewirkt haben. Kritias ist ein so bedeutender mensch, daſs man an sich<lb/> einen verkehr ganz gern glauben würde.</note>. aber das gebiet, auf welchem der dichter<lb/> die von auſsen an ihn dringenden erschütterungen mit sich und vor dem<lb/> publicum durchkämpft, ist das poetische. auch er läſst, wie sein volk,<lb/> nichts unversucht und rüttelt an den gesetzen seiner kunst wie an ketten.<lb/> jetzt erst wird er der Euripides, den wir im bilde schauen und der als<lb/> typus im gedächtnis der Hellenen fortlebte, bitter und menschenverachtend,<lb/> jede leidenschaft aufwühlend, ohne je zur befriedigung zu kommen, und<lb/> daneben in kalter dialektik den schönen schein zersetzend, unter dem sich<lb/> die nichtigkeit alles irdischen verbirgt. die zeitgenossen empfanden es,<lb/> daſs er sie verachtete und doch als geborner lehrer des volkes beherrschte<lb/> und beherrschen wollte. die meute der komiker stürzte sich wider ihn,<lb/> und diesen, nicht ihm fielen die siegerkränze zu. er gab auch ihnen mit<lb/> bittrem worte die antwort <note place="foot" n="23)">In der zweiten Melanippe 495 μισῶ γελοίους οἵτινες τήτει (lies τήτῃ: das<lb/> fordert τητᾶν) σοφῶν ἀχάλιν̕ ἔχουσι στόματα κἀς ἀνδρῶν μὲν οὐ τελοῦσιν ἀρι-<lb/> ϑμόν, ἐν γέλωτι δ̕ εὐπρεπεῖς οἰκοῦσιν οἴκους.</note>, er trug in der Antiope mit seiner ganzen<lb/> kraft, der dialektischen wie der pathetischen, das eigenlob des ϑεωρη-<lb/> τικὸς βίος vor: aber dann gab er das spiel selbst verloren, gab auch<lb/> das vaterland verloren und wanderte aus.</p><lb/> <p>Die götter waren immer freundlich gewesen gegen Sophokles. schön-<lb/> heit und heiterkeit, genuſsfähigkeit und liebenswürdigkeit hatten sie ihm<lb/> verliehen. ein langes leben hindurch hatte ihn die volle βίου εὔροια<lb/> getragen. auch das war eine gnade, daſs er nun steinalt war, wenn<lb/> auch jugendkräftig bei der arbeit, aber lebend mehr in dem reiche seiner<lb/> ideale als in der traurigen gegenwart, mit sich selbst und seinem volke<lb/> in harmonie. nun schenkten die götter dem schönen leben gnädig den<lb/> schönen schluſs: er durfte noch im freien Athen sterben und die feind-<lb/> lichen vorposten öffneten sich ehrfurchtsvoll dem leichenzuge, der den<lb/> letzten tänzer des salaminischen siegesfestes an die seite seiner väter<lb/> trug. fern in Gela ruhte Aischylos, fern an der makedonischen Arethusa<lb/> war Euripides jüngst gebettet. die beiden waren kurz vor ihrem tode<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [15/0035]
Lebensführung.
zugeben nicht unterläſst 22). aber das gebiet, auf welchem der dichter
die von auſsen an ihn dringenden erschütterungen mit sich und vor dem
publicum durchkämpft, ist das poetische. auch er läſst, wie sein volk,
nichts unversucht und rüttelt an den gesetzen seiner kunst wie an ketten.
jetzt erst wird er der Euripides, den wir im bilde schauen und der als
typus im gedächtnis der Hellenen fortlebte, bitter und menschenverachtend,
jede leidenschaft aufwühlend, ohne je zur befriedigung zu kommen, und
daneben in kalter dialektik den schönen schein zersetzend, unter dem sich
die nichtigkeit alles irdischen verbirgt. die zeitgenossen empfanden es,
daſs er sie verachtete und doch als geborner lehrer des volkes beherrschte
und beherrschen wollte. die meute der komiker stürzte sich wider ihn,
und diesen, nicht ihm fielen die siegerkränze zu. er gab auch ihnen mit
bittrem worte die antwort 23), er trug in der Antiope mit seiner ganzen
kraft, der dialektischen wie der pathetischen, das eigenlob des ϑεωρη-
τικὸς βίος vor: aber dann gab er das spiel selbst verloren, gab auch
das vaterland verloren und wanderte aus.
Die götter waren immer freundlich gewesen gegen Sophokles. schön-
heit und heiterkeit, genuſsfähigkeit und liebenswürdigkeit hatten sie ihm
verliehen. ein langes leben hindurch hatte ihn die volle βίου εὔροια
getragen. auch das war eine gnade, daſs er nun steinalt war, wenn
auch jugendkräftig bei der arbeit, aber lebend mehr in dem reiche seiner
ideale als in der traurigen gegenwart, mit sich selbst und seinem volke
in harmonie. nun schenkten die götter dem schönen leben gnädig den
schönen schluſs: er durfte noch im freien Athen sterben und die feind-
lichen vorposten öffneten sich ehrfurchtsvoll dem leichenzuge, der den
letzten tänzer des salaminischen siegesfestes an die seite seiner väter
trug. fern in Gela ruhte Aischylos, fern an der makedonischen Arethusa
war Euripides jüngst gebettet. die beiden waren kurz vor ihrem tode
22) Frö. 952. wir haben kein mittel, festzustellen, wieso man in früher zeit
dazu gekommen ist, eine tetralogie des Kritias, die also wahrscheinlich in den letzten
lebensjahren des Euripides gegeben ist, diesem zuzuschreiben. wenn die didaskalien
ihn mannten, so hatte er dem Kritias einen freundschaftsdienst getan, und das er-
weckt dann weitere perspectiven auf die Kreise zu denen er sich hielt. aber ebenso-
gut können die didaskalien Kritias genannt haben, und nur stil und gedanken und
der fluch, der auf dem gedächtnis des tyrannen lag, den irrtum der nächsten gene-
ration bewirkt haben. Kritias ist ein so bedeutender mensch, daſs man an sich
einen verkehr ganz gern glauben würde.
23) In der zweiten Melanippe 495 μισῶ γελοίους οἵτινες τήτει (lies τήτῃ: das
fordert τητᾶν) σοφῶν ἀχάλιν̕ ἔχουσι στόματα κἀς ἀνδρῶν μὲν οὐ τελοῦσιν ἀρι-
ϑμόν, ἐν γέλωτι δ̕ εὐπρεπεῖς οἰκοῦσιν οἴκους.
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