Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Das leben des Euripides. in die ferne gezogen, aber Aischylos in der höchsten schaffenskraft,nachdem er noch eben sein grösstes werk unter dem vollen beifalle seines volkes gekrönt gesehen hatte, und dieses volk strebte dem höchsten hoffnungsvoll und kraftvoll zu 24). Euripides hatte die schwelle der sieb- ziger überschritten, er war ein leben im engsten kreise und in der unab- hängigkeit aber auch der beschränkung des gelehrten gewohnt: jetzt siedelte er an einen halbbarbarischen hof voll soldatischen getöses, in ein fremdes land über, und er schied auf nimmerwiedersehn von der vaterstadt, deren politischer sturz sicher zu erwarten stand, deren ver- tilgung gar nicht unwahrscheinlich war. es war ein schritt der ver- zweiflung. Am hofe des königs Archelaos fand er freilich eine stattliche reihe 24) Dass Aischylos im grolle über die politischen veränderungen aus Athen gewichen sei, ist nicht zu beweisen. die Eumeniden schliessen mit der vollsten har- monie und nichts verrät, dass der dichter die macht und den stolz der heimat, wozu auch der Areopag, asundekaston touto bouleuterion, gehört, für beeinträchtigt oder bedroht gehalten hätte. es ist ganz unmöglich zu sagen, was er mit seiner reise bezweckte. übrigens braucht er nicht älter als 60 jahre gewesen zu sein, und er kann somit mit dem gedanken heimzukehren und von neuem zu siegen fort- gezogen sein. 25) Dass Thukydides in Makedonien gestorben wäre, durfte freilich nicht für historisch ausgegeben werden, da es nur auf einem dialoge des Praxiphanes beruht. aber seine anwesenheit daselbst, wahrscheinlich an sich, ist schwerlich von Praxi- phanes erfunden, denn auch die zuerteilung des bekannten grabepigramms auf Euri- pides (Athen. V 187d, auch im genos) setzt sie voraus, und eben deshalb wird es auch dem Timotheos zugeschrieben, der ja auch in Makedonien gewesen ist. das epigramm dem 4. jahrhundert abzusprechen, ist man nicht veranlasst. 26) Agathon zum eromenos des Euripides zu machen, lag nahe, und ist an sich
nichts als eine ausgestaltung ihres zusammenlebens in Pella. aber bei Aelian steht nicht nur dies (V. H. XIII 4), sondern auch, dass Euripides ihm zu ehren den Chry- sippos dichtete (V. H. II 21). das kann ja bloss deshalb gesagt sein, weil der Chry- sippos das problem der knabenliebe behandelt. aber es gibt zu denken, dass der Chrysippos mit den Phoinissen wirklich in den letzten attischen jahren des Euri- pides verfasst ist (etwa 410), und Platons Symposion führt Agathon und Pausanias, auf den auch Xenophon verweist, als typen der knabenliebe ein. es ist sehr zu bedauern, auch für die symposien, dass wir von der behandlung des Euripides nicht mehr wissen, als dass er die knabenliebe verwarf, obwohl sich Laios auf die phusis für sie berief. geurteilt hat Euripides immer so, denn nur sein Kyklop gibt sich solcher neigung hin, während Aischylos und Sophokles arglos der volkssitte folgen. Das leben des Euripides. in die ferne gezogen, aber Aischylos in der höchsten schaffenskraft,nachdem er noch eben sein gröſstes werk unter dem vollen beifalle seines volkes gekrönt gesehen hatte, und dieses volk strebte dem höchsten hoffnungsvoll und kraftvoll zu 24). Euripides hatte die schwelle der sieb- ziger überschritten, er war ein leben im engsten kreise und in der unab- hängigkeit aber auch der beschränkung des gelehrten gewohnt: jetzt siedelte er an einen halbbarbarischen hof voll soldatischen getöses, in ein fremdes land über, und er schied auf nimmerwiedersehn von der vaterstadt, deren politischer sturz sicher zu erwarten stand, deren ver- tilgung gar nicht unwahrscheinlich war. es war ein schritt der ver- zweiflung. Am hofe des königs Archelaos fand er freilich eine stattliche reihe 24) Daſs Aischylos im grolle über die politischen veränderungen aus Athen gewichen sei, ist nicht zu beweisen. die Eumeniden schlieſsen mit der vollsten har- monie und nichts verrät, daſs der dichter die macht und den stolz der heimat, wozu auch der Areopag, ἀσυνδέκαστον τοῦτο βουλευτήριον, gehört, für beeinträchtigt oder bedroht gehalten hätte. es ist ganz unmöglich zu sagen, was er mit seiner reise bezweckte. übrigens braucht er nicht älter als 60 jahre gewesen zu sein, und er kann somit mit dem gedanken heimzukehren und von neuem zu siegen fort- gezogen sein. 25) Daſs Thukydides in Makedonien gestorben wäre, durfte freilich nicht für historisch ausgegeben werden, da es nur auf einem dialoge des Praxiphanes beruht. aber seine anwesenheit daselbst, wahrscheinlich an sich, ist schwerlich von Praxi- phanes erfunden, denn auch die zuerteilung des bekannten grabepigramms auf Euri- pides (Athen. V 187d, auch im γένος) setzt sie voraus, und eben deshalb wird es auch dem Timotheos zugeschrieben, der ja auch in Makedonien gewesen ist. das epigramm dem 4. jahrhundert abzusprechen, ist man nicht veranlaſst. 26) Agathon zum ἐρώμενος des Euripides zu machen, lag nahe, und ist an sich
nichts als eine ausgestaltung ihres zusammenlebens in Pella. aber bei Aelian steht nicht nur dies (V. H. XIII 4), sondern auch, daſs Euripides ihm zu ehren den Chry- sippos dichtete (V. H. II 21). das kann ja bloſs deshalb gesagt sein, weil der Chry- sippos das problem der knabenliebe behandelt. aber es gibt zu denken, daſs der Chrysippos mit den Phoinissen wirklich in den letzten attischen jahren des Euri- pides verfaſst ist (etwa 410), und Platons Symposion führt Agathon und Pausanias, auf den auch Xenophon verweist, als typen der knabenliebe ein. es ist sehr zu bedauern, auch für die symposien, daſs wir von der behandlung des Euripides nicht mehr wissen, als daſs er die knabenliebe verwarf, obwohl sich Laios auf die φύσις für sie berief. geurteilt hat Euripides immer so, denn nur sein Kyklop gibt sich solcher neigung hin, während Aischylos und Sophokles arglos der volkssitte folgen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0036" n="16"/><fw place="top" type="header">Das leben des Euripides.</fw><lb/> in die ferne gezogen, aber Aischylos in der höchsten schaffenskraft,<lb/> nachdem er noch eben sein gröſstes werk unter dem vollen beifalle seines<lb/> volkes gekrönt gesehen hatte, und dieses volk strebte dem höchsten<lb/> hoffnungsvoll und kraftvoll zu <note place="foot" n="24)">Daſs Aischylos im grolle über die politischen veränderungen aus Athen<lb/> gewichen sei, ist nicht zu beweisen. die Eumeniden schlieſsen mit der vollsten har-<lb/> monie und nichts verrät, daſs der dichter die macht und den stolz der heimat, wozu<lb/> auch der Areopag, ἀσυνδέκαστον τοῦτο βουλευτήριον, gehört, für beeinträchtigt<lb/> oder bedroht gehalten hätte. es ist ganz unmöglich zu sagen, was er mit seiner<lb/> reise bezweckte. übrigens braucht er nicht älter als 60 jahre gewesen zu sein, und<lb/> er kann somit mit dem gedanken heimzukehren und von neuem zu siegen fort-<lb/> gezogen sein.</note>. Euripides hatte die schwelle der sieb-<lb/> ziger überschritten, er war ein leben im engsten kreise und in der unab-<lb/> hängigkeit aber auch der beschränkung des gelehrten gewohnt: jetzt<lb/> siedelte er an einen halbbarbarischen hof voll soldatischen getöses, in<lb/> ein fremdes land über, und er schied auf nimmerwiedersehn von der<lb/> vaterstadt, deren politischer sturz sicher zu erwarten stand, deren ver-<lb/> tilgung gar nicht unwahrscheinlich war. es war ein schritt der ver-<lb/> zweiflung.</p><lb/> <p>Am hofe des königs Archelaos fand er freilich eine stattliche reihe<lb/> geistiger celebritäten; selbst dem Thukydides wird er hier begegnet sein <note place="foot" n="25)">Daſs Thukydides in Makedonien gestorben wäre, durfte freilich nicht für<lb/> historisch ausgegeben werden, da es nur auf einem dialoge des Praxiphanes beruht.<lb/> aber seine anwesenheit daselbst, wahrscheinlich an sich, ist schwerlich von Praxi-<lb/> phanes erfunden, denn auch die zuerteilung des bekannten grabepigramms auf Euri-<lb/> pides (Athen. V 187<hi rendition="#sup">d</hi>, auch im γένος) setzt sie voraus, und eben deshalb wird es<lb/> auch dem Timotheos zugeschrieben, der ja auch in Makedonien gewesen ist. das<lb/> epigramm dem 4. jahrhundert abzusprechen, ist man nicht veranlaſst.</note>,<lb/> und vor allem mochte ihm der verkehr mit Agathon wol tun, der auch<lb/> tragiker war und rückhaltlos die consequenzen der euripideischen tragödie<lb/> und der neuen gorgianischen stilistik zu ziehen versuchte <note place="foot" n="26)">Agathon zum ἐρώμενος des Euripides zu machen, lag nahe, und ist an sich<lb/> nichts als eine ausgestaltung ihres zusammenlebens in Pella. aber bei Aelian steht<lb/> nicht nur dies (V. H. XIII 4), sondern auch, daſs Euripides ihm zu ehren den Chry-<lb/> sippos dichtete (V. H. II 21). das kann ja bloſs deshalb gesagt sein, weil der Chry-<lb/> sippos das problem der knabenliebe behandelt. aber es gibt zu denken, daſs der<lb/> Chrysippos mit den Phoinissen wirklich in den letzten attischen jahren des Euri-<lb/> pides verfaſst ist (etwa 410), und Platons Symposion führt Agathon und Pausanias,<lb/> auf den auch Xenophon verweist, als typen der knabenliebe ein. es ist sehr zu<lb/> bedauern, auch für die symposien, daſs wir von der behandlung des Euripides nicht<lb/> mehr wissen, als daſs er die knabenliebe verwarf, obwohl sich Laios auf die φύσις<lb/> für sie berief. geurteilt hat Euripides immer so, denn nur sein Kyklop gibt sich<lb/> solcher neigung hin, während Aischylos und Sophokles arglos der volkssitte folgen.</note>. rasch entledigte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0036]
Das leben des Euripides.
in die ferne gezogen, aber Aischylos in der höchsten schaffenskraft,
nachdem er noch eben sein gröſstes werk unter dem vollen beifalle seines
volkes gekrönt gesehen hatte, und dieses volk strebte dem höchsten
hoffnungsvoll und kraftvoll zu 24). Euripides hatte die schwelle der sieb-
ziger überschritten, er war ein leben im engsten kreise und in der unab-
hängigkeit aber auch der beschränkung des gelehrten gewohnt: jetzt
siedelte er an einen halbbarbarischen hof voll soldatischen getöses, in
ein fremdes land über, und er schied auf nimmerwiedersehn von der
vaterstadt, deren politischer sturz sicher zu erwarten stand, deren ver-
tilgung gar nicht unwahrscheinlich war. es war ein schritt der ver-
zweiflung.
Am hofe des königs Archelaos fand er freilich eine stattliche reihe
geistiger celebritäten; selbst dem Thukydides wird er hier begegnet sein 25),
und vor allem mochte ihm der verkehr mit Agathon wol tun, der auch
tragiker war und rückhaltlos die consequenzen der euripideischen tragödie
und der neuen gorgianischen stilistik zu ziehen versuchte 26). rasch entledigte
24) Daſs Aischylos im grolle über die politischen veränderungen aus Athen
gewichen sei, ist nicht zu beweisen. die Eumeniden schlieſsen mit der vollsten har-
monie und nichts verrät, daſs der dichter die macht und den stolz der heimat, wozu
auch der Areopag, ἀσυνδέκαστον τοῦτο βουλευτήριον, gehört, für beeinträchtigt
oder bedroht gehalten hätte. es ist ganz unmöglich zu sagen, was er mit seiner
reise bezweckte. übrigens braucht er nicht älter als 60 jahre gewesen zu sein, und
er kann somit mit dem gedanken heimzukehren und von neuem zu siegen fort-
gezogen sein.
25) Daſs Thukydides in Makedonien gestorben wäre, durfte freilich nicht für
historisch ausgegeben werden, da es nur auf einem dialoge des Praxiphanes beruht.
aber seine anwesenheit daselbst, wahrscheinlich an sich, ist schwerlich von Praxi-
phanes erfunden, denn auch die zuerteilung des bekannten grabepigramms auf Euri-
pides (Athen. V 187d, auch im γένος) setzt sie voraus, und eben deshalb wird es
auch dem Timotheos zugeschrieben, der ja auch in Makedonien gewesen ist. das
epigramm dem 4. jahrhundert abzusprechen, ist man nicht veranlaſst.
26) Agathon zum ἐρώμενος des Euripides zu machen, lag nahe, und ist an sich
nichts als eine ausgestaltung ihres zusammenlebens in Pella. aber bei Aelian steht
nicht nur dies (V. H. XIII 4), sondern auch, daſs Euripides ihm zu ehren den Chry-
sippos dichtete (V. H. II 21). das kann ja bloſs deshalb gesagt sein, weil der Chry-
sippos das problem der knabenliebe behandelt. aber es gibt zu denken, daſs der
Chrysippos mit den Phoinissen wirklich in den letzten attischen jahren des Euri-
pides verfaſst ist (etwa 410), und Platons Symposion führt Agathon und Pausanias,
auf den auch Xenophon verweist, als typen der knabenliebe ein. es ist sehr zu
bedauern, auch für die symposien, daſs wir von der behandlung des Euripides nicht
mehr wissen, als daſs er die knabenliebe verwarf, obwohl sich Laios auf die φύσις
für sie berief. geurteilt hat Euripides immer so, denn nur sein Kyklop gibt sich
solcher neigung hin, während Aischylos und Sophokles arglos der volkssitte folgen.
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