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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Kopfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, das man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er thun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Athem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das ließ ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hatte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hatte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt,

sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Kopfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, das man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er thun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Athem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das ließ ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hatte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hatte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt,

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[0014] sie sei, gab er sie für eine entfernte ausländische Verwandte aus, deren Verstand zerrüttet sei, und die er aus Erbarmen bei sich behalte. Die Leute schüttelten die Kopfe dazu, die stolze, edle Erscheinung war selbst in ihren Bauernkleidern von Thomas und seiner Umgebung himmelweit verschieden; man sprach und sprach, die Sache fing an Lärm zu machen, die Polizei wurde wirklich aufmerksam, Thomas wurde nach der Stadt berufen, er kehrte zurück, und Alles blieb wie es war. Der Graf, hieß es, habe sich seines langjährigen Dieners angenommen und ihn von jeder Unannehmlichkeit durch sein Fürwort frei gemacht. Die Folge davon war, das man anfing, den Grafen mit der Fremden in Verbindung zu bringen. Natürlich hörten die Kinder des Dorfes Manches von dem, was die Eltern sprachen, und legten es sich auf ihre Weise zurecht; Leonie machte ein gar kluges Gesicht zu ihren Bemerkungen, aber sie schwieg wie das Grab. Und doch war sie dabei gewesen, als die Fremde ankam, die damals keine Bauernkleider trug. Hinter einem Busche versteckt, furchtsam in sich zusammengekauert, hatte Leonie gesehen, wie Thomas sie aus dem Wagen hob und gleich danach ihr Vater zur Erde sprang. Leonie erschrak heftig, ihn so nahe, nur ein paar Schritte entfernt, vor sich zu sehen. Was würde er thun, wenn er sie hier entdeckte? Sie kauerte sich noch mehr zusammen und hielt den Athem an. Ahnungslos gingen die Drei an ihr vorbei, und hinter ihnen erhob sich Leonie. Sollte sie fliehen? Nein, das ließ ihre Neugierde nicht. Geräuschlos wie ein Schatten schlich sie näher zum Hause hinan. Weinranken umzogen es bis zum Dache. Wie eine Katze kletterte sie an diesen empor, und hatte der Graf einen Augenblick nach seinem Eintritt das Auge dem Fenster zugewendet, das die Hauptstube des Hofes erhellte, so hatte er ein bleiches Kindergesicht an die kleinen, altmodischen Scheiben gedrückt gesehen. Aber daran dachte er nicht; seine Gedanken waren ganz anders beschäftigt,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/14>, abgerufen am 21.11.2024.