Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.vergangene Minute sei. Die Gräfin kann auf mich rechnen, sagte er der Dienerin, die im Vorzimmer wartete. Denselben Abend reiste die Gräfin mit ihrem Vater ab. Ich komme, dir Gesellschaft zu leisten, sagte sie zu Otto, als er sie ganz überrascht aus dem Wagen hob. Sie war gefaßt und freundlich und scherzte in gedämpfter Heiterkeit über Otto, der des Fragens über Alles, was ihn in der Stadt interessierte, gar kein Ende fand. Ihr Mädchenzimmer wurde für sie bereitet; sie fand es unverändert, wie sie es vor noch nicht drei Jahren verlassen, und eben so unverändert, nur mehr entwickelt, war die Leonie, die es betrat. Und ich werde doch mein Ziel erreichen, sagte sie sich, als sie Abends den müden, reichgelockten Kopf auf das langentwöhnte Polster legte. Und wie oft hatte sie dasselbe an derselben Stelle seit ihrer frühesten Kindheit gesagt! Schon den folgenden Morgen schrieb sie an ihren Mann. Es schien ihr ein Band zu sein, das sie mit dem sicheren Grund verknüpfte, der unter ihr gewichen, und auch jetzt noch dünkte sie sich fester zu stehen, wenn sie erwog, wie innig seine Liebe war. Dann wollte sie sehen, ob ihre persönliche Freiheit eine Einschränkung erleiden würde, und gleich nach dem Frühstück machte sie sich zum Ausgehen bereit. Aber Niemand legte ihr etwas in den Weg; nur Otto begleitete sie plaudernd vor das Thor. Doch hier mußte er zurück, denn er hatte andere Dinge zu thun. Ihr erster Gang war zur Pfarrerin, der sie mit aller Vertraulichkeit der Kinderjahre um den Hals fiel. Die gute, sanfte Frau geriet fast außer sich vor Überraschung und Glück. Der Pfarrer eilte in Hemdärmeln vom Garten herein, das Kind, das er unterrichtet und eingesegnet, in allem Glanz der Jugend und vollendeten Weiblichkeit wiederzusehen. Seine Frau vergangene Minute sei. Die Gräfin kann auf mich rechnen, sagte er der Dienerin, die im Vorzimmer wartete. Denselben Abend reiste die Gräfin mit ihrem Vater ab. Ich komme, dir Gesellschaft zu leisten, sagte sie zu Otto, als er sie ganz überrascht aus dem Wagen hob. Sie war gefaßt und freundlich und scherzte in gedämpfter Heiterkeit über Otto, der des Fragens über Alles, was ihn in der Stadt interessierte, gar kein Ende fand. Ihr Mädchenzimmer wurde für sie bereitet; sie fand es unverändert, wie sie es vor noch nicht drei Jahren verlassen, und eben so unverändert, nur mehr entwickelt, war die Leonie, die es betrat. Und ich werde doch mein Ziel erreichen, sagte sie sich, als sie Abends den müden, reichgelockten Kopf auf das langentwöhnte Polster legte. Und wie oft hatte sie dasselbe an derselben Stelle seit ihrer frühesten Kindheit gesagt! Schon den folgenden Morgen schrieb sie an ihren Mann. Es schien ihr ein Band zu sein, das sie mit dem sicheren Grund verknüpfte, der unter ihr gewichen, und auch jetzt noch dünkte sie sich fester zu stehen, wenn sie erwog, wie innig seine Liebe war. Dann wollte sie sehen, ob ihre persönliche Freiheit eine Einschränkung erleiden würde, und gleich nach dem Frühstück machte sie sich zum Ausgehen bereit. Aber Niemand legte ihr etwas in den Weg; nur Otto begleitete sie plaudernd vor das Thor. Doch hier mußte er zurück, denn er hatte andere Dinge zu thun. Ihr erster Gang war zur Pfarrerin, der sie mit aller Vertraulichkeit der Kinderjahre um den Hals fiel. Die gute, sanfte Frau geriet fast außer sich vor Überraschung und Glück. Der Pfarrer eilte in Hemdärmeln vom Garten herein, das Kind, das er unterrichtet und eingesegnet, in allem Glanz der Jugend und vollendeten Weiblichkeit wiederzusehen. 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vergangene Minute sei. Die Gräfin kann auf mich rechnen, sagte er der Dienerin, die im Vorzimmer wartete.
Denselben Abend reiste die Gräfin mit ihrem Vater ab.
Ich komme, dir Gesellschaft zu leisten, sagte sie zu Otto, als er sie ganz überrascht aus dem Wagen hob.
Sie war gefaßt und freundlich und scherzte in gedämpfter Heiterkeit über Otto, der des Fragens über Alles, was ihn in der Stadt interessierte, gar kein Ende fand. Ihr Mädchenzimmer wurde für sie bereitet; sie fand es unverändert, wie sie es vor noch nicht drei Jahren verlassen, und eben so unverändert, nur mehr entwickelt, war die Leonie, die es betrat.
Und ich werde doch mein Ziel erreichen, sagte sie sich, als sie Abends den müden, reichgelockten Kopf auf das langentwöhnte Polster legte. Und wie oft hatte sie dasselbe an derselben Stelle seit ihrer frühesten Kindheit gesagt!
Schon den folgenden Morgen schrieb sie an ihren Mann. Es schien ihr ein Band zu sein, das sie mit dem sicheren Grund verknüpfte, der unter ihr gewichen, und auch jetzt noch dünkte sie sich fester zu stehen, wenn sie erwog, wie innig seine Liebe war. Dann wollte sie sehen, ob ihre persönliche Freiheit eine Einschränkung erleiden würde, und gleich nach dem Frühstück machte sie sich zum Ausgehen bereit. Aber Niemand legte ihr etwas in den Weg; nur Otto begleitete sie plaudernd vor das Thor. Doch hier mußte er zurück, denn er hatte andere Dinge zu thun.
Ihr erster Gang war zur Pfarrerin, der sie mit aller Vertraulichkeit der Kinderjahre um den Hals fiel.
Die gute, sanfte Frau geriet fast außer sich vor Überraschung und Glück. Der Pfarrer eilte in Hemdärmeln vom Garten herein, das Kind, das er unterrichtet und eingesegnet, in allem Glanz der Jugend und vollendeten Weiblichkeit wiederzusehen. Seine Frau
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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T13:30:48Z)
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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