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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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hielt Leonie's Hände und nannte sie bald mit dem altgewohnten Du, bald Fräulein oder Gräfin, bis sie wieder in das vertraute Du verfiel. Es war, wie wenn ein Kind, das man lange aus den Augen verloren, plötzlich und unerwartet zur alten Heimath wiederkehrt. Und Alles hier wehte Leonie so heimathlich, so vertraut an, so längst gewöhnt und gekannt, trotz alles Wechsels, den der Lauf der Zeit überall mit sich bringt. Das Herz ging ihr auf im neu erwachten Gefühle der Sicherheit, der Krampf löste sich in ihrer Brust bei all dieser Liebe, die man dem fernen Kinde so treu und lebendig aufbewahrt. Es war ein Gefühl der Unschuld, das zum ersten Male in ihrem Leben heute über sie kam. Sie küßte die alte Magd, die vor Ehrfurcht beinahe in die Knie sank, auf die Wange und lachte und weinte vor Rührung, als der Hund, der seit ihrer Entfernung unmäßig dick geworden, in das Zimmer stürzte und vor Freude winselnd sie am Kleide zupfte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

O, sagte sie, könnte ich doch immer hier sein! Das Schloss ist unheimlich wie ein Grab und der Vater finsterer als je.

Nun, Sie können ja recht oft zu uns kommen, sagte die Pfarrerin, und Leonie versprach es auch.

Gott sei Dank! dachte sie, als sie den Weg zum Schlosse wieder hinauf ging, das sind Freunde, und in ihrer Nähe kann mir so leicht nichts geschehen.

Aber auch auf dem Schlosse gab es durchaus nichts Verdächtiges. Ihr Vater, den sie so sehr gefürchtet, kümmerte sich wenig um sie und hielt sich meist auf seinem Zimmer auf; Otto beschäftigten die Angelegenheiten des Gutes, und Leonie blieb viel allein. Sie durchsuchte das alte Gebäude, das Kinderspiele gesehen, vom Boden bis zum Keller, jeder Winkel wurde von ihr in Augenschein genommen; auch die Umgebung, den Wald, jeden Ort, den sie gekannt und geliebt, suchte sie allein oder in Otto's Begleitung wieder auf.

hielt Leonie's Hände und nannte sie bald mit dem altgewohnten Du, bald Fräulein oder Gräfin, bis sie wieder in das vertraute Du verfiel. Es war, wie wenn ein Kind, das man lange aus den Augen verloren, plötzlich und unerwartet zur alten Heimath wiederkehrt. Und Alles hier wehte Leonie so heimathlich, so vertraut an, so längst gewöhnt und gekannt, trotz alles Wechsels, den der Lauf der Zeit überall mit sich bringt. Das Herz ging ihr auf im neu erwachten Gefühle der Sicherheit, der Krampf löste sich in ihrer Brust bei all dieser Liebe, die man dem fernen Kinde so treu und lebendig aufbewahrt. Es war ein Gefühl der Unschuld, das zum ersten Male in ihrem Leben heute über sie kam. Sie küßte die alte Magd, die vor Ehrfurcht beinahe in die Knie sank, auf die Wange und lachte und weinte vor Rührung, als der Hund, der seit ihrer Entfernung unmäßig dick geworden, in das Zimmer stürzte und vor Freude winselnd sie am Kleide zupfte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

O, sagte sie, könnte ich doch immer hier sein! Das Schloss ist unheimlich wie ein Grab und der Vater finsterer als je.

Nun, Sie können ja recht oft zu uns kommen, sagte die Pfarrerin, und Leonie versprach es auch.

Gott sei Dank! dachte sie, als sie den Weg zum Schlosse wieder hinauf ging, das sind Freunde, und in ihrer Nähe kann mir so leicht nichts geschehen.

Aber auch auf dem Schlosse gab es durchaus nichts Verdächtiges. Ihr Vater, den sie so sehr gefürchtet, kümmerte sich wenig um sie und hielt sich meist auf seinem Zimmer auf; Otto beschäftigten die Angelegenheiten des Gutes, und Leonie blieb viel allein. Sie durchsuchte das alte Gebäude, das Kinderspiele gesehen, vom Boden bis zum Keller, jeder Winkel wurde von ihr in Augenschein genommen; auch die Umgebung, den Wald, jeden Ort, den sie gekannt und geliebt, suchte sie allein oder in Otto's Begleitung wieder auf.

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[0184] hielt Leonie's Hände und nannte sie bald mit dem altgewohnten Du, bald Fräulein oder Gräfin, bis sie wieder in das vertraute Du verfiel. Es war, wie wenn ein Kind, das man lange aus den Augen verloren, plötzlich und unerwartet zur alten Heimath wiederkehrt. Und Alles hier wehte Leonie so heimathlich, so vertraut an, so längst gewöhnt und gekannt, trotz alles Wechsels, den der Lauf der Zeit überall mit sich bringt. Das Herz ging ihr auf im neu erwachten Gefühle der Sicherheit, der Krampf löste sich in ihrer Brust bei all dieser Liebe, die man dem fernen Kinde so treu und lebendig aufbewahrt. Es war ein Gefühl der Unschuld, das zum ersten Male in ihrem Leben heute über sie kam. Sie küßte die alte Magd, die vor Ehrfurcht beinahe in die Knie sank, auf die Wange und lachte und weinte vor Rührung, als der Hund, der seit ihrer Entfernung unmäßig dick geworden, in das Zimmer stürzte und vor Freude winselnd sie am Kleide zupfte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. O, sagte sie, könnte ich doch immer hier sein! Das Schloss ist unheimlich wie ein Grab und der Vater finsterer als je. Nun, Sie können ja recht oft zu uns kommen, sagte die Pfarrerin, und Leonie versprach es auch. Gott sei Dank! dachte sie, als sie den Weg zum Schlosse wieder hinauf ging, das sind Freunde, und in ihrer Nähe kann mir so leicht nichts geschehen. Aber auch auf dem Schlosse gab es durchaus nichts Verdächtiges. Ihr Vater, den sie so sehr gefürchtet, kümmerte sich wenig um sie und hielt sich meist auf seinem Zimmer auf; Otto beschäftigten die Angelegenheiten des Gutes, und Leonie blieb viel allein. Sie durchsuchte das alte Gebäude, das Kinderspiele gesehen, vom Boden bis zum Keller, jeder Winkel wurde von ihr in Augenschein genommen; auch die Umgebung, den Wald, jeden Ort, den sie gekannt und geliebt, suchte sie allein oder in Otto's Begleitung wieder auf.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/184>, abgerufen am 21.11.2024.