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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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an, was ich hatte, und dankte Gott für mein Glück, als sie mich nicht zurückwies. Ihrem Herrn Vater muss ich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das er mich dringend vor einem Schritte warnte, der ihm mindestens in finanzieller Hinsicht unüberlegt erschien, denn er selbst hatte eine reiche Braut heimgeführt. Doch ich hörte nicht auf ihn, und wirklich verflossen die ersten Jahre meiner Ehe in einer Glückseligkeit, von welcher ich Ihnen ein Bild zu geben umsonst versuchen würde. Mein Otto mochte vier Jahre sein, und ein kleines Mädchen hatte soeben das Licht der Welt erblickt. Meine Frau bestand darauf, daß es Leonie heiße; Leonie ist ein hübscher Name, und ich hatte nichts dagegen, daß meine Tochter einen hübschen Namen trug. Zudem war es der Name Ihres Vaters, der das Mädchen aus der Taufe hob. Ihr Vater war noch immer ein fleißiger Besucher in unserm Hause, in der letzten Zeit eigentlich mehr als je. Wie gesagt, er war liebenswürdig, und es mochte wohl Jeder sich gern an seinem Umgange erfreuen. Mein Urtheil über seine Sitten war nicht strenger geworden, ich hielt mein Glück für eine Ausnahme und pries dankbar den Himmel dafür; aber auch mich band die Liebe weit mehr als die Pflicht. So gab ich mich denn sehr gern dem alten Zuge der Freundschaft hin.

Meine Frau erholte sich schwer. Sie hatte vom ersten Augenblicke an eine eifersüchtig leidenschaftliche Liebe für das kleine Wesen an den Tag gelegt; sie wollte daher auch keine Amme dulden und stillte es selbst. Da sie nicht stark war, so warnte der Arzt vor übermäßiger Anstrengung.

Eines Nachts weckte mich ein schwerer Traum. Ich sah sie sterben, und im Todeskampfe rief sie hilfeflehend nach mir. Kurz, der Traum weckte mich. Den Tag über war sie ungewöhnlich bleich und erregbar gewesen und hatte sich zeitlich zur Ruhe begeben. Eine drückende Angst erfaßte plötzlich mein Herz; ich stand

an, was ich hatte, und dankte Gott für mein Glück, als sie mich nicht zurückwies. Ihrem Herrn Vater muss ich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das er mich dringend vor einem Schritte warnte, der ihm mindestens in finanzieller Hinsicht unüberlegt erschien, denn er selbst hatte eine reiche Braut heimgeführt. Doch ich hörte nicht auf ihn, und wirklich verflossen die ersten Jahre meiner Ehe in einer Glückseligkeit, von welcher ich Ihnen ein Bild zu geben umsonst versuchen würde. Mein Otto mochte vier Jahre sein, und ein kleines Mädchen hatte soeben das Licht der Welt erblickt. Meine Frau bestand darauf, daß es Leonie heiße; Leonie ist ein hübscher Name, und ich hatte nichts dagegen, daß meine Tochter einen hübschen Namen trug. Zudem war es der Name Ihres Vaters, der das Mädchen aus der Taufe hob. Ihr Vater war noch immer ein fleißiger Besucher in unserm Hause, in der letzten Zeit eigentlich mehr als je. Wie gesagt, er war liebenswürdig, und es mochte wohl Jeder sich gern an seinem Umgange erfreuen. Mein Urtheil über seine Sitten war nicht strenger geworden, ich hielt mein Glück für eine Ausnahme und pries dankbar den Himmel dafür; aber auch mich band die Liebe weit mehr als die Pflicht. So gab ich mich denn sehr gern dem alten Zuge der Freundschaft hin.

Meine Frau erholte sich schwer. Sie hatte vom ersten Augenblicke an eine eifersüchtig leidenschaftliche Liebe für das kleine Wesen an den Tag gelegt; sie wollte daher auch keine Amme dulden und stillte es selbst. Da sie nicht stark war, so warnte der Arzt vor übermäßiger Anstrengung.

Eines Nachts weckte mich ein schwerer Traum. Ich sah sie sterben, und im Todeskampfe rief sie hilfeflehend nach mir. Kurz, der Traum weckte mich. Den Tag über war sie ungewöhnlich bleich und erregbar gewesen und hatte sich zeitlich zur Ruhe begeben. Eine drückende Angst erfaßte plötzlich mein Herz; ich stand

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[0196] an, was ich hatte, und dankte Gott für mein Glück, als sie mich nicht zurückwies. Ihrem Herrn Vater muss ich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das er mich dringend vor einem Schritte warnte, der ihm mindestens in finanzieller Hinsicht unüberlegt erschien, denn er selbst hatte eine reiche Braut heimgeführt. Doch ich hörte nicht auf ihn, und wirklich verflossen die ersten Jahre meiner Ehe in einer Glückseligkeit, von welcher ich Ihnen ein Bild zu geben umsonst versuchen würde. Mein Otto mochte vier Jahre sein, und ein kleines Mädchen hatte soeben das Licht der Welt erblickt. Meine Frau bestand darauf, daß es Leonie heiße; Leonie ist ein hübscher Name, und ich hatte nichts dagegen, daß meine Tochter einen hübschen Namen trug. Zudem war es der Name Ihres Vaters, der das Mädchen aus der Taufe hob. Ihr Vater war noch immer ein fleißiger Besucher in unserm Hause, in der letzten Zeit eigentlich mehr als je. Wie gesagt, er war liebenswürdig, und es mochte wohl Jeder sich gern an seinem Umgange erfreuen. Mein Urtheil über seine Sitten war nicht strenger geworden, ich hielt mein Glück für eine Ausnahme und pries dankbar den Himmel dafür; aber auch mich band die Liebe weit mehr als die Pflicht. So gab ich mich denn sehr gern dem alten Zuge der Freundschaft hin. Meine Frau erholte sich schwer. Sie hatte vom ersten Augenblicke an eine eifersüchtig leidenschaftliche Liebe für das kleine Wesen an den Tag gelegt; sie wollte daher auch keine Amme dulden und stillte es selbst. Da sie nicht stark war, so warnte der Arzt vor übermäßiger Anstrengung. Eines Nachts weckte mich ein schwerer Traum. Ich sah sie sterben, und im Todeskampfe rief sie hilfeflehend nach mir. Kurz, der Traum weckte mich. Den Tag über war sie ungewöhnlich bleich und erregbar gewesen und hatte sich zeitlich zur Ruhe begeben. Eine drückende Angst erfaßte plötzlich mein Herz; ich stand

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/196>, abgerufen am 21.11.2024.