Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.gedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig. Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön -- man sieht jetzt nichts mehr davon. -- Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt! Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend. Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er -- hüte dich vor Ihm -- hörst du? -- Er kennt kein Erbarmen! --> Aber du wirst mich rächen! O siehst du -- die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! -- Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater -- der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still. Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt. Ich -- ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf' nicht wissen, daß ich da war. In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese gedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig. Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön — man sieht jetzt nichts mehr davon. — Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt! Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend. Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er — hüte dich vor Ihm — hörst du? — Er kennt kein Erbarmen! —> Aber du wirst mich rächen! O siehst du — die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! — Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater — der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still. Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt. Ich — ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf' nicht wissen, daß ich da war. In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0024"/> gedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.</p><lb/> <p>Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön — man sieht jetzt nichts mehr davon. — Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!</p><lb/> <p>Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.</p><lb/> <p>Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er — hüte dich vor Ihm — hörst du? — Er kennt kein Erbarmen! —> Aber du wirst mich rächen! O siehst du — die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —</p><lb/> <p>Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater — der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.</p><lb/> <p>Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.</p><lb/> <p>Ich — ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf' nicht wissen, daß ich da war.</p><lb/> <p>In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
gedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.
Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren, mageren, weißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weisen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön — man sieht jetzt nichts mehr davon. — Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!
Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.
Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er — hüte dich vor Ihm — hörst du? — Er kennt kein Erbarmen! —> Aber du wirst mich rächen! O siehst du — die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —
Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Übel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater — der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als das es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.
Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.
Ich — ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf' nicht wissen, daß ich da war.
In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T13:30:48Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T13:30:48Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |