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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Zweytes Capitel.


Allgemeine
Erinnerun-
gen über die
Kunst dieser
drey Völker.

Ueber die Kunst dieser Mittägigen und Morgenländischen Völker zu-
sammen genommen, können noch ein paar allgemeine Anmerkungen beyge-
füget werden. Wenn wir die Monarchische Verfassung in Aegypten so
wohl, als bey den Phöniciern und Persern, erwegen, in welcher der unum-
schränkte Herr die höchste Ehre mit niemanden im Volke theilete, so kann man
sich vorstellen, daß das Verdienst keiner andern Person um sein Vaterland,
mit Statuen belohnet worden, wie in freyen, so wohl alten als neuen, Staa-
ten geschehen. Es findet sich auch keine Nachricht von dieser einem Unter-
than dieser Reiche wiederfahrnen Dankbarkeit. Carthago war zwar in dem
Lande der Phönicier ein freyer Staat, und regierete sich nach seinen eigenen
Gesetzen, aber die Eifersucht zwoer mächtigen Partheyen gegen einander
würde die Ehre der Unsterblichkeit einem jeden Bürger streitig gemacht haben.
Ein Heerführer stand in Gefahr, ein jedes Versehen mit seinem Kopfe zu be-
zahlen; von großen Ehren-Bezeugungen bey ihnen meldet die Geschichte
nichts. Folglich bestand die Kunst bey diesen Völkern mehrentheils bloß
auf die Religion, und konnte aus dem bürgerlichen Leben wenig Nutzen und
Wachsthum empfangen. Die Begriffe der Künstler waren also weit ein-
geschränkter, als bey den Griechen, und ihr Geist war durch den Aberglau-
ben an angenommene Gestalten gebunden.

Diese drey Völker hatten in ihren blühenden Zeiten vermuthlich wenig
Gemeinschaft unter einander: von den Aegyptern wissen wir es, und die
Perser, welche spät einen Fuß an den Küsten des Mittelländischen Meers er-
langeten, konnten vorher mit den Phöniciern wenig Verkehr haben. Die
Sprachen dieser beyden Völker waren auch in Buchstaben gänzlich von einan-
der verschieden. Die Kunst muß also unter ihnen in jedem Lande eigen-
thümlich gewesen seyn. Unter den Persern scheinet die Bildung den gering-
sten Wachsthum erlanget zu haben; in Aegypten gieng dieselbe auf die Groß-
heit; und bey den Phöniciern wird man mehr die Zierlichkeit und Einheit

der
I Theil. Zweytes Capitel.


Allgemeine
Erinnerun-
gen uͤber die
Kunſt dieſer
drey Voͤlker.

Ueber die Kunſt dieſer Mittaͤgigen und Morgenlaͤndiſchen Voͤlker zu-
ſammen genommen, koͤnnen noch ein paar allgemeine Anmerkungen beyge-
fuͤget werden. Wenn wir die Monarchiſche Verfaſſung in Aegypten ſo
wohl, als bey den Phoͤniciern und Perſern, erwegen, in welcher der unum-
ſchraͤnkte Herr die hoͤchſte Ehre mit niemanden im Volke theilete, ſo kann man
ſich vorſtellen, daß das Verdienſt keiner andern Perſon um ſein Vaterland,
mit Statuen belohnet worden, wie in freyen, ſo wohl alten als neuen, Staa-
ten geſchehen. Es findet ſich auch keine Nachricht von dieſer einem Unter-
than dieſer Reiche wiederfahrnen Dankbarkeit. Carthago war zwar in dem
Lande der Phoͤnicier ein freyer Staat, und regierete ſich nach ſeinen eigenen
Geſetzen, aber die Eiferſucht zwoer maͤchtigen Partheyen gegen einander
wuͤrde die Ehre der Unſterblichkeit einem jeden Buͤrger ſtreitig gemacht haben.
Ein Heerfuͤhrer ſtand in Gefahr, ein jedes Verſehen mit ſeinem Kopfe zu be-
zahlen; von großen Ehren-Bezeugungen bey ihnen meldet die Geſchichte
nichts. Folglich beſtand die Kunſt bey dieſen Voͤlkern mehrentheils bloß
auf die Religion, und konnte aus dem buͤrgerlichen Leben wenig Nutzen und
Wachsthum empfangen. Die Begriffe der Kuͤnſtler waren alſo weit ein-
geſchraͤnkter, als bey den Griechen, und ihr Geiſt war durch den Aberglau-
ben an angenommene Geſtalten gebunden.

Dieſe drey Voͤlker hatten in ihren bluͤhenden Zeiten vermuthlich wenig
Gemeinſchaft unter einander: von den Aegyptern wiſſen wir es, und die
Perſer, welche ſpaͤt einen Fuß an den Kuͤſten des Mittellaͤndiſchen Meers er-
langeten, konnten vorher mit den Phoͤniciern wenig Verkehr haben. Die
Sprachen dieſer beyden Voͤlker waren auch in Buchſtaben gaͤnzlich von einan-
der verſchieden. Die Kunſt muß alſo unter ihnen in jedem Lande eigen-
thuͤmlich geweſen ſeyn. Unter den Perſern ſcheinet die Bildung den gering-
ſten Wachsthum erlanget zu haben; in Aegypten gieng dieſelbe auf die Groß-
heit; und bey den Phoͤniciern wird man mehr die Zierlichkeit und Einheit

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[78/0128] I Theil. Zweytes Capitel. Ueber die Kunſt dieſer Mittaͤgigen und Morgenlaͤndiſchen Voͤlker zu- ſammen genommen, koͤnnen noch ein paar allgemeine Anmerkungen beyge- fuͤget werden. Wenn wir die Monarchiſche Verfaſſung in Aegypten ſo wohl, als bey den Phoͤniciern und Perſern, erwegen, in welcher der unum- ſchraͤnkte Herr die hoͤchſte Ehre mit niemanden im Volke theilete, ſo kann man ſich vorſtellen, daß das Verdienſt keiner andern Perſon um ſein Vaterland, mit Statuen belohnet worden, wie in freyen, ſo wohl alten als neuen, Staa- ten geſchehen. Es findet ſich auch keine Nachricht von dieſer einem Unter- than dieſer Reiche wiederfahrnen Dankbarkeit. Carthago war zwar in dem Lande der Phoͤnicier ein freyer Staat, und regierete ſich nach ſeinen eigenen Geſetzen, aber die Eiferſucht zwoer maͤchtigen Partheyen gegen einander wuͤrde die Ehre der Unſterblichkeit einem jeden Buͤrger ſtreitig gemacht haben. Ein Heerfuͤhrer ſtand in Gefahr, ein jedes Verſehen mit ſeinem Kopfe zu be- zahlen; von großen Ehren-Bezeugungen bey ihnen meldet die Geſchichte nichts. Folglich beſtand die Kunſt bey dieſen Voͤlkern mehrentheils bloß auf die Religion, und konnte aus dem buͤrgerlichen Leben wenig Nutzen und Wachsthum empfangen. Die Begriffe der Kuͤnſtler waren alſo weit ein- geſchraͤnkter, als bey den Griechen, und ihr Geiſt war durch den Aberglau- ben an angenommene Geſtalten gebunden. Dieſe drey Voͤlker hatten in ihren bluͤhenden Zeiten vermuthlich wenig Gemeinſchaft unter einander: von den Aegyptern wiſſen wir es, und die Perſer, welche ſpaͤt einen Fuß an den Kuͤſten des Mittellaͤndiſchen Meers er- langeten, konnten vorher mit den Phoͤniciern wenig Verkehr haben. Die Sprachen dieſer beyden Voͤlker waren auch in Buchſtaben gaͤnzlich von einan- der verſchieden. Die Kunſt muß alſo unter ihnen in jedem Lande eigen- thuͤmlich geweſen ſeyn. Unter den Perſern ſcheinet die Bildung den gering- ſten Wachsthum erlanget zu haben; in Aegypten gieng dieſelbe auf die Groß- heit; und bey den Phoͤniciern wird man mehr die Zierlichkeit und Einheit der

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/128>, abgerufen am 29.11.2024.