Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Viertes Capitel. II.Der hohe Stil. Endlich da die Zeiten der völligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie- Es ist aber wahrscheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten in 1) Plin. L. 34. c. 19.
I Theil. Viertes Capitel. II.Der hohe Stil. Endlich da die Zeiten der voͤlligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie- Es iſt aber wahrſcheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten in 1) Plin. L. 34. c. 19.
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I Theil. Viertes Capitel.
Endlich da die Zeiten der voͤlligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie-
chenland erſchienen, wurde auch die Kunſt freyer und erhabner. Der aͤl-
tere Stil war auf ein Syſtema gebauet, welches aus Regeln beſtand, die
von der Natur genommen waren, und ſich nachher von derſelben entfernet
hatten, und Idealiſch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der
Vorſchrift dieſer Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn
die Kunſt hatte ſich eine eigene Natur gebildet. Ueber dieſes angenomme-
ne Syſtema erhoben ſich die Verbeſſerer der Kunſt, und naͤherten ſich der
Wahrheit der Natur. Dieſe lehrete aus der Haͤrte und von hervorſprin-
genden und jaͤh abgeſchnittenen Theilen der Figur in fluͤßige Umriſſe zu
gehen, die gewaltſamen Stellungen und Handlungen geſitteter und weiſer
zu machen, und ſich weniger gelehrt, als ſchoͤn, erhaben und groß zu zeigen.
Durch dieſe Verbeſſerung der Kunſt haben ſich Phidias, Polycletus, Sco-
pas, Alcamenes und Myron beruͤhmt gemacht: der Stil derſelben kann
der Große genennet werden, weil außer der Schoͤnheit die vornehmſte Ab-
ſicht dieſer Kuͤnſtler ſcheinet die Großheit geweſen zu ſeyn. Hier iſt in der
Zeichnung das Harte von dem Scharfen wohl zu unterſcheiden, damit
man nicht z. E. die ſcharfgezogene Andeutung der Augenbranen, die man
beſtaͤndig in Bildungen der hoͤchſten Schoͤnheiten ſieht, fuͤr eine unnatuͤr-
liche Haͤrte nehme, welche aus dem aͤltern Stile geblieben ſey: denn dieſe
ſcharfe Bezeichnung hat ihren Grund in den Begriffen der Schoͤnheit, wie
oben bemerket worden.
A.
Deſſen Eigen-
ſchaften.
Es iſt aber wahrſcheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten
zu ſchließen, daß der Zeichnung dieſes hohen Stils das Gerade einiger-
maßen noch eigen geblieben, und daß die Umriſſe dadurch in Winkel ge-
gangen, welches durch das Wort viereckt oder eckigt 1) ſcheinet ange-
gedeutet zu werden. Denn da dieſe Meiſter, wie Polycletus, Geſetzgeber
in
1) Plin. L. 34. c. 19.
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